Caroline Criado Perez’ preisgekröntes Sachbuch Unsichtbare Frauen begegnet mir ständig: Auf Geschenktipptischen im Buchladen, in Artikeln zu feministischer Stadtplanung und schließlich im Regal einer befreundeten Person, von wo ich es mir ausleihe.
Unsichtbare Frauen handelt von einer Welt, die für Männer gemacht ist.
Gemacht ist hier keine Metapher: Crash Test Dummies sind genauso auf den Körper des Durchschnitsmannes zugeschnitten wie Musikinstrumente oder kugelsichere Schutzkleidung. Das hat zur Folge, dass Frauen häufiger bei Autounfällen sterben, Profi-Musikerinnen schneller chronische Entzündungen entwickeln und Polizistinnen öfter bei Einsätzen schwer verletzt werden.
Das Gefälle hat einen Namen: Der Gender Data Gap.
Er zeigt sich vor allem im Bezug auf den weiblichen Körper, unbezahlte Fürsorge-Arbeit und Gewalt gegen Frauen.
Der Gender Data Gap hat ganz konkrete Folgen:
Lange Zeit stellten Ärztïnnen seltener Herzinfarkte bei Frauen fest, da sich die Symptome bei Männern und Frauen unterscheiden. Die klassischen Symptome galten nur für Männer.
In Studien zu Arbeitssicherheit werden zwar geschlechtsunspezifische Risiken wie Krebs oder Depressionen sehr gut erforscht. Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz aber ist kaum studiert.
Öffentlicher Nahverkehr ist für (männliche) Pendler optimiert, die von ihrem Zuhause im Vorort zur Arbeit ins Zentrum fahren. So kommt es zu dem Sternverkehr vieler Städte. Wege, die diesem Bewegungsmuster nicht folgen, wie die Fahrt zur KiTa mit anschließendem Einkauf und einem Krankenbesuch bei der Schwiegermutter, sind häufig wesentlich umständlicher.
Caroline Criado Perez füllt den Data Gap mit Studie um Studie. Sie zeigt, wie viel unbequemer, gefährlicher und anstrengender die Welt für diejenigen ist, für die sie nicht gemacht wurde.
Auf einmal erscheinen mir die vielen kleinen Unbequemlichkeiten, die ich täglich erlebe - zu kalt eingestellte Klimaanlagen; Supermarktregale, die ich mit meinen einssechzig nicht erreichen kann oder Werkzeuge, die zu groß für meine Hände sind - in einem anderen Licht.
Ich beginne selbst Dinge zu sehen, die Resultate des Data Gaps sein könnten: In meiner Kletterhalle scheitere ich manchmal an leichten Strecken, weil die Abstände zwischen den Griffen und die Griffe selbst zu groß sind. Aus einer einfachen 3 wird damit für mich eher eine anspruchsvolle 5. Zuhause google ich: Männerdominanz im Routenbau wird von vielen Kletterïnnen kritisiert.1
Nur eine Sache stört mich: Ich bin keine Frau. Ich weise zwar viele körperliche Merkmale auf, die ich eher mit Frauen als mit Männern teile. Aber als nicht-binäre Person erlebe ich die Welt anders als die meisten Frauen.2
Dass Menschen wie ich existieren, erwähnt Caroline Criado Perez nicht. Mit keinem Wort. In ihrem Buch existieren nur zwei Geschlechter. Sie schreibt auch von Männern und Frauen, ohne ein einziges Mal die Vorsilbe cis3 zu verwenden.
Inter4, trans und nicht-binäre Personen kommen in Unsichtbare Frauen nicht vor. Das ist zwar an sich nicht ungewöhnlich, gerade in Studien wird wenn überhaupt nur nach Männern und Frauen aufgeschlüsselt, ohne einen Unterschied zwischen cis und trans zu machen. Nenn es den Transgender Data Gap.
Allerdings bemühen sich feministische Publikationen der letzten Dekade um das Mitdenken zahlreicher Diskriminierungsformen wie Race und Klasse oder eben trans und inter Geschlechtlichkeit.
Zu vielen dieser Diskriminierungen hat auch Unsichtbare Frauen etwas zu sagen: "wenn es um Frauen of colour, behinderte Frauen und Frauen aus der Arbeiterklasse geht, sind die Daten praktisch nicht vorhanden. Wo sie vorhanden sind, habe ich sie eingefügt.“
Allein im Sinne eines sauberen wissenschaftlichen Arbeitens hätte Criado Perez trans und inter Personen in diese Aufzählung aufnehmen können. Warum tat sie es nicht?
🚩 Chromosomen
Das ist nicht die einzige Stelle, an der mir Criado Perez unsauberes Arbeiten aufgefallen ist. Da gibt es noch die Definition von Geschlecht:
„In diesem Buch verwende ich die Begriffe biologisches Geschlecht (sex) und soziales Geschlecht (gender). Als biologisches Geschlecht bezeichne ich die biologischen Merkmale, die ein Individuum als männlich oder weiblich determinieren, also die Chromosomen XX und XY .“
Chromosomen sind allerdings nur einer von mehreren Faktoren, die das biologische Geschlecht festlegen. Andere sind Hormone, Fortpflanzungsorgane, Genitalien oder sekundäre Geschlechtsmerkmale.5 Im Zusammenspiel all dieser Merkmale entsteht das biologische Geschlecht. “Biologisch weiblich” und “biologisch männlich” klar zu unterscheiden, ist schwierig. Hier auf Substack habe ich einen Text über Geschlechtertrennung im Spitzensport geschrieben, der zeigt, wie schwierig diese Unterscheidung ist:
Was macht eine Frau zur Frau?
Als ich diesen Sommer die Fernsehaufzeichnungen der Olympischen Spiele schaute, ließ mich eine Frage nicht los: Warum tragen Weltklassesportlerinnen wie Janja Garnbret oder Simone Biles Ohrringe und Make-Up? Weder das eine noch das andere ist praktisch: Schmuck kann hängen bleiben und Verletzungen verursachen; schwitzen mit Make-Up: naja.
Warum aber denken wir, dass Chromosomen Geschlecht festlegen? Zum Einen: Weil wir das in der Schule so gelernt habe. Und wie vieles aus dem Schulunterricht ist auch das mit den Chromosomen grob vereinfacht. Zum Anderen war das tatsächlich mal der Stand der Forschung.6
Dass ein Buch wie Unsichtbare Frauen, das vielfach für seine Wissenschaftlichkeit gerühmt wurde, sich an genau dieser Stelle auf längst überholte Forschung bezieht, macht mich skeptisch.
Viele Menschen, die die Existenz von trans Personen leugnen, tun das nämlich mithilfe der Chromosomen. Zum Beispiel:
In der mittlerweile für transfeindlichen Feminismus berühmten Zeitschrift Emma heißt es:„Es gibt Menschen, die wollen ihr Geschlecht ändern, aber das können sie gar nicht. Sie bleiben weiterhin XY oder XX.“7
YouTube ist voll von Clips des rechten Kommentators Ben Shapiro, der Dinge sagt wie: „Sex is determined by your chromosomes“8
Hier wird versucht, einen unveränderlichen biologischen Fakt zu finden - wie Chromosomen - und allein daran das Geschlecht festzumachen. Trans Personen sollen von der Definition ausgeschlossen werden.
Damit das funktioniert, muss das soziale Geschlecht - gender - ignoriert werden. Sonst wäre es ja möglich, dass jemand mit XX-Chromosomen wie ein Mann aussieht, sich wie ein Mann kleidet, wie ein Mann spricht, als Mann behandelt wird und daher nach allen Spielregeln des Alltags ein Mann ist.
Caroline Criado Perez aber kennt gender. Ihre Definition davon lässt jedoch nicht zu, dass sich sex und gender unterscheiden:
„Mit dem sozialen Geschlecht (gender) meine ich die gesellschaftlichen Zuschreibungen, die wir diesen biologischen Fakten aufzwingen – wie Frauen behandelt werden, weil sie als weiblich wahrgenommen werden.“
In dieser Definition existiert soziales Geschlecht nur auf Grundlage des biologischen Geschlechts. Gender sozusagen als Interpretation von sex. Dass das soziale Geschlecht sich vom biologischen unterscheidet, ist hier nichtmal eine Option. Trans und nicht-binäre Personen werden so einfach wegdefiniert.
Dabei hat sich eine transinklusive Unterscheidung von sex und gender mittlerweile weit außerhalb akademischer Nischen9 verbreitet. Selbst die deutsche Wikipedia — nicht gerade ein Bollwerk der Emanzipation — hat einen breiter gefassten Begriff von Gender:
„Als Gender, soziales Geschlecht oder Geschlechtlichkeit werden Geschlechtsaspekte zusammengefasst, die eine Person in Gesellschaft und Kultur in Abgrenzung zu ihrem rein biologischen Geschlecht (englisch sex) beschreiben.“10
Auf Wikipedia ist auch ein kurzes Video der Tagesschau eingebettet, das nicht nur sex und gender, sondern auch inter, trans und nicht-binäre Geschlechtlichkeit erklärt. Eine empfehlenswerte Orientierung für alle, die mit den Begriffen noch unsicher sind.
Wie kommt es, dass eine Person wie Caroline Criado Perez, die selbst Gender Studies studierte, eine engere Definition des sozialen Geschlechts schafft als Wikipedia oder die Tagesschau? Eine, die die Existenz von trans Personen ausschließt?
Backlash
In der letzten Dekade hat sich für trans Personen viel zum Positiven verändert. Schauspielerïnnen wie Laverne Cox oder Eliot Page verschafften trans Menschen Sichtbarkeit, in Deutschland wurde das hochgradig diskriminierende Transsexuellengesetz durch das weniger diskriminierende Selbstbestimmungsgesetz abgelöst.
Wie immer, wenn emanzipatorische Bewegungen Erfolge erkämpfen, erfolgt auch gegen trans Rechte ein Backlash. Ein trauriger Höhepunkt dieses Backlashs war wohl der Aufruf einiger US-Republikaner, trans Personen auf jedem gesellschaftlichen Level auszulöschen.11
Transfeindlichkeit beginnt aber nicht mit der Auslöschung von trans Personen.
Sie endet dort.
Der Beginn wirkt meist harmlos. Und sieht oft genug so aus: Geschlecht wird vom Chromosomensatz determiniert. Diese biologischen Fakten kann man nicht ändern.
Und wenn man selbst nicht-binär und trans ist, beginnt man sehr feine Antennen für Anzeichen transfeindlicher Rhetorik zu entwickeln.
🚩 Toiletten
Nach dem, was Criado Perez über sex und gender schreibt, sind meine Antennen an.
Das zweite Kapitel von Unsichtbare Frauen heißt: "Genderneutral with urinals”. Oder auf Deutsch: Geschlechtergerechtigkeit mit Urinalen (ja, das ist die deutsche Übersetzung lol).
Es beginnt mit einer Anekdote. Eine Journalistin musste nach einer Kinovorstellung zu ihrem Entsetzen feststellen, dass die zuvor zweigeschlechtlich getrennten Toiletten nun genderneutral waren.12
Sie findet: Die genderneutralen Toiletten sind diskriminierend. In erster Linie wegen der langen Schlangen, die häufig vor Frauentoiletten entstehen — ein Problem, das genderneutrale Toiletten verstärken.
Criado Perez zeigt, warum die Schlangen vor Frauenklos entstehen. Das finde ich ernsthaft interessant. Eine ganze Reihe von Faktoren trägt dazu bei:
zu jedem gegebenen Zeitpunkt menstruieren 20-25% Prozent aller Frauen
Schwangerschaften und Blasenentzündungen verstärken den Harndrang
Frauen leisten auch auf der Toilette Sorgearbeit für Kinder und Seniorïnnen
Urinale nehmen weniger Raum ein als Kabinen. Wenn Männer und Frauenklos also die gleiche Grundfläche bekommen, gibt es meistens einfach MEHR Männerklos
Was ich weniger interessant, sondern einigermaßen besorgniserregend finde, ist die Engführung von sexualisierter Gewalt und Unisex-Toiletten, die sich durch das ganze Kapitel zieht.
Im Hintergrund dieser Angst vor Unisex-Klos spukt das Schauermärchen von „als Frauen verkleideten Männern“ herum, die wie in Hitchcocks Horror-Klassiker Psycho unschuldigen blonde Frauen in Sanitäranlagen Gewalt antun - ein Schauermärchen, das längst in zahlreichen Debatten Stimmung gegen trans Personen macht. In Großbritannien wurde zB beschlossen, dass trans Personen nur noch die Toiletten ihres Geburtsgeschlechts besuchen dürfen. Auch Donald Trump hat mehrere Dekrete dazu erlassen.
Die Angst vor “als Frauen verkleideten Männern” ist aber eben vor allem eines: ein Schauermärchen. Empirische Forschung des Williams Institute fand keinerlei Hinweis auf ansteigende Gewalttaten, wenn trans Personen die zu ihrem Gender gehörenden Toiletten benutzen. Sehr wohl steigt aber die Gewalt gegen trans Personen, wenn sie dazu gezwungen sind, die zum Geburtsgeschlecht gehörenden Toiletten zu benutzen.13
🚩 Status Quo
Nach dem Klo-Kapitel empfinde ich die politische Haltung des Buches immer zweifelhafter.
Ich finde unangenehm, wie oft die Autorin eine Statistik über sexualisierte Gewalt mit detaillierten Erzählungen brutaler Vergewaltigungen und Morde beendet. Ich frage mich, ob die betroffenen Mädchen und Frauen damit einverstanden gewesen wären. Es kommt mir zynisch vor, sie so in Erinnerung zu halten: In Verbindung mit dem, was ihren Körpern angetan wurde. Als wäre ihr Vermächtnis die Brutalität des Verbrechens, das ihr Leben beendete.
Auch der viel gelobte Fokus auf den Gender Data Gap erscheint mir immer fragwürdiger. Der Text wartet mit einem Schnellfeuerwerk von Studien auf, in dem zwangsläufig Kontext verloren geht. Methoden und Größen der Studien werden selten genannt; stattdessen springt der Text innerhalb weniger Seiten vom Toilettenbesuch im Londoner Kino zu einem Femizid in Mumbai. Das wirkt im schlimmsten Fall, als solle der Tod eines Mädchens aus dem Globalen Süden den Wunsch weißer Frauen nach mehr Polizeikontrollen rechtfertigen. Nicht, dass das so im Text stünde — die Aneinanderreihung impliziert es nur. Dabei können Diskriminierungserfahrungen stark variieren, je nachdem, welchen Machtachsen man unterworfen ist.
Das Klo-Kapitel zum Beispiel hat seinen Schwerpunkt auf dem stadtplanerischen und architektonischen Aspekt des Toilettenzugangs. Einige Studien aber beziehen sich auf Arbeiterinnen, die während ihrer Schichten nicht aufs Klo gehen. Das ist unter Umständen kein Problem von Stadtplanung, sondern von Arbeiterïnnenrechten. Wir alle kennen die Geschichten von im Akkord arbeitenden Näherinnen aus dem Globalen Süden, die nicht trinken, damit sie keine kostbare Zeit zum Pinkeln aufwenden müssen und ihre Kleidungsstück-Quoten erfüllen können.
Arbeiterïnnenrechte thematisiert das Buch an der Stelle aber nicht. Warum? Weil Arbeiterïnnenrechte und Stadtplanung nicht zusammen passen? Weil Harndrang während der Arbeit nicht frauenspezifisch genug ist, wie die Klage von Amazonfahrern zeigt, die während ihrer Schichten in Flaschen pinkelten?14
Ich finde unangenehm, dass es seitenlang um die Größe von Smartphones geht (sie lassen sich mit großen Händen leichter einhändig bedienen), während Probleme des Datenschutzes, das süchtigmachende Design15 oder die angehenden Monopolstellungen der Internetriesen ausgespart werden.
Sehr unangenehm finde ich den Teil über Soldatinnen und Polizistinnen. Criado Perez schreibt: Da die Uniformen auf flachbrüstige Körper zugeschnitten sind, bieten sie Menschen mit Brüsten weniger Schutz. Das führt dazu, dass Soldatinnen und Polizistinnen häufiger bei Einsätzen verletzt werden.
Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt unfeministisch erscheine. Aber. Können wir bitte erstmal über die eklatanten Probleme des Polizeiapparates reden?
Zahlreiche investigative Recherchen belegen das Rechtsextremismusproblem von Polizei und Militär in Deutschland.16 Ich war Zeugïn, wie Polizistïnnen in Kampfanzügen die Teilnehmerin einer friedlichen Versammlung ohne Angaben von Gründen in Schmerzgriffe nehmen wollten. In Deutschland schießt die Polizei regelmäßig auf Menschen in psychischen Ausnahmesituationen.17 Und nicht nur in den USA ermorden Polizistïnnen Menschen of Colour.18
Solange es keine groß angelegte Reform der Polizei, solange es keine unabhängige Kontroll- und Meldeinstanzen für (rassistische) Polizeigewalt gibt, solange kriminalisierte Folgen sozialer Probleme wie Obdachlosigkeit und Suchterkrankungen nicht mit sozialen Lösungen begegnet wird, solange möchte ich keine verbesserten Kampfanzüge. Im Zweifelsfall verleihen die den Beamtïnnen beim Schießen auf psychisch kranke Menschen nämlich nur mehr Bewegungsfreiheit.
I’m the problem. It’s me.
(Or is it?)
Die Art und Weise, mit der ich hier argumentiere, ist Whataboutism. Criado Perez benennt ein Problem - die Größe von Smartphones in Relation zur Handgröße vieler Frauen - und ich sage: But what about Datenschutz?!
Man könnte darauf zu Recht erwidern:
Es geht in dem Buch nunmal nicht um Datenschutz. Sondern um Daten - wie sie Männerkörper bevorzugen und das immer und immer wieder. Wie das immer und immer wieder Frauen benachteiligt. Mit mehr oder weniger gravierenden Folgen. Zugegeben: Meistens weniger. Schließlich stirbt niemand daran, dass eine Zange zu groß für die eigene Hand oder ein Sack Erde zu schwer ist. Aber wie es so schön heißt: Kleinvieh macht auch Mist. Und dieses Buch zeigt eben den Misthaufen, unter dem viele Frauen begraben werden.
Okay, aber was wäre, wenn wir den Misthaufen wegschaufeln?, könnte ich rhetorisch fragen. Wenn wir den Gender Data Gap beseitigen, Smartphones in der Größe von 90er-Nokiahandys nutzen und Sicherheitsausrüstung mit Brüsten designen — würden wir dann in einer gerechten Welt leben?
Die Antwort ist natürlich Nein. Es gäbe noch immer Armut, Krieg und von der Klimakrise habe ich noch gar nicht angefangen. Und das sind nur die Dinge, auf die sich viele Menschen einigen können.
Kein Buch schreibt sich auf die Fahnen, alle Probleme der Welt lösen zu wollen. Und wenn doch: Nimm die Beine in die Hand, dahinter steckt wahrscheinlich eine Sekte.
Mein Thema mit Unsichtbare Frauen ist diffiziler. Es ist kein schlechtes Buch. Es tut, was es verspricht: Es zeigt wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Okay, vielleicht ignoriert es dabei trans, nicht-binäre und inter Personen, aber mein Gott, manchmal muss man eben verallgemeinern. Ich kann auf keine Stelle zeigen und sagen: Hier. Das ist eindeutig transfeindlich.
Ich kann nur auf Stellen zeigen und sagen: Hier. Da argumentiert das Buch wie bekennende Transfeinde.
Ich kann des Rest der Lektüre nach der Politik dahinter suchen. Auch wenn es nur um Daten geht, ist es kein wissenschaftlicher Text, der sich aus der Sphäre der Politik heraushält. Jedes Kapitel endet zB mit einigen Forderungen. Wissenschaftliche Texte enden normalerweise nicht mit Forderungen, sondern mit Vorschlägen für weitergehende Forschung.
Unsichtbare Frauen ist also nicht einfach ein Text, der Daten auswertet. Es ist ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit einer politischen Agenda. Die Forderung: Frauen in allen Bereichen des Lebens berücksichtigen. Diese Forderung wird so auch wahrgenommen: Auf Amazon wird das Buch als “kraftvolles und provokantes Plädoyer für Veränderung” beworben. Florian Zinner, Rezensent für den mdr, nennt es eine “Pflichtlektüre für den Beginn einer besseren Menschheit”. In der Zeit spricht Agnes Striegan gar vom Plädoyer für einen Systemwandel.
Und hier lässt sich festhalten: Manches steht nicht auf der Agenda. Dazu zählt Veränderung, die über eine Anpassung des Status Quo hinausgeht — wie die dringend notwendige Reform des Polizeiapparats. Und im Zweifel schadet die Anpassung des Status Quo eben denjenigen Frauen, die jetzt schon am stärksten unter dem Patriarchat leiden.
So enttäuscht ich von Unsichtbare Frauen war, so wichtig sind mir feministische Anliegen. Deswegen endet dieser Text mit Leseempfehlungen, die ähnliche Schwerpunkte haben wie Unsichtbare Frauen,:
Data Feminism von Catherine D’Ignazio und Lauren F. Klein macht Vorschläge, wie die Data Sciences Frauen und andere Nicht-Männer mitdenken kann. Die Autorinnen arbeiten intersektionale Machtachsen heraus.
Feminist City von Leslie Kern fand ich eine großartige Lektüre über Feminismus und Stadtplanung. Feminist City behandelt viele ähnliche Themen wie Unsichtbare Frauen, aber stellt weitsichtigere Forderungen.
Race After Technology von Ruha Benjamin betrachtet ebenfalls einen Data Gap, aber im Bezug auf Race. Race After Technology zeigt die datengelenkte Fortschreibungen rassistischer Systeme und deren Konsequenzen für Schwarze Personen.
Shon Fayes Die Transgender Frage untersucht die Lebenssituationen von trans Personen hinsichtlich Gesundheit, Arbeitsplatz, Bildung, Finanzen und Gesetzgebung. Was ich oben scherzhaft den Transgender Data Gap nannte, dem nähert sich dieser Text.
Lektorat und tolle Textgespräche von oliwia haelterlein - danke<3
Dieser Artikel erklärt das Problem ganz gut UND erwähnt mehr als zwei Geschlechter: https://mojagear.com/dude-grades-a-look-at-sexism-in-climbing-grades/. Im Missy Magazine gibts auch ein Interview mit einer Routenschrauberin: https://missy-magazine.de/blog/2024/11/11/work-work-work-routenschrauberin/
Vielleicht schreibe ich darüber auch mal. Arbeitstitel: Why I was never like the other girls.
Mit cis Frau oder cis Mann bezeichnet man Frauen und Männer, die in ihrem jeweiligen Geschlecht geboren wurden. Das Gegenstück dazu ist trans, was so viel wie “jenseits” bedeutet. Es bezeichnet Frauen, Männer und nicht-binäre Personen, die in einem anderen Geschlecht leben, als dem, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Inter (manchmal auch intergeschlechtlich, intersexuell oder kurz inter*) ist eine Bezeichnung für diejenigen Menschen, deren biologische Geschlechtsmerkmale sich nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Ob jemand inter ist, kann man der Person oft nicht ansehen. Inter Personen können jedes Gender haben - es kann sich um Männer, Frauen oder nicht-binäre Personen handeln.
Heinz-Jürgen Voß, Prof. Dr. für Sexualwissenschaften und Sexuelle Bildung, hat auf seiner Website einen großartigen Korpus mit u.a. frei zugänglichen Texten, die die Komplexität biologischen Geschlechts erklären.
https://www.emma.de/artikel/viele-geschlechter-das-ist-unfug-339689.
In seinem Beitrag “Angeboren oder Entwickelt: Zur Biologie der Geschlechtsentwicklung” schreibt der oben erwähnte Heinz-Jürgen Voß, wie die Forschung zu diesem Stand kam: Dass sex durch X- und Y-Chromosomen festgelegt wird, sind androzentrisch durchtränkte Annahmen aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Sie passten gut zu bereits im 19. Jahrhundert vorherrschenden Vorstellungen von Weiblichkeit als passiv und Männlichkeit als aktiv: Während das X-Chromosomen verharrt, entwickelt sich das Y. So ging man davon aus, dass es sich bei dem passiven Chromosomen um das weibliche, beim aktiven um das männliche handelt. Den vermeintlich geschlechtsdeterminierenden Chromosomen werden die gleichen Eigenschaften zugeschrieben, die auch Männern und Frauen zugeschrieben werden.
Der Beitrag ist kostenlos über Heinz-Jürgen Voß’ Website aufrufbar.
Ein Video, in dem man nicht nur Beispiele für Shapiros Argumentation, sondern auch eine Dekonstruktion des Arguments sehen kann, ist Contrapoints: Pronouns.
Apropos akademische Nischen: Es ist nicht so, dass die Konzepte von Sex und Gender in den Sozialwissenschaften völlig unumstritten wären. Radikalkonstruktivistische Theoretikerïnnen wie Judith Butler weisen zurecht daraufhin, dass auch die Biologie ein menschengemachtes Ordnungssystem ist. Also ist auch das biologische Geschlecht nicht einfach gegeben, sondern wird erst hervorgebracht.
Aber das nur nebenbei.
Ich verlinke diese Aufnahmen nicht. Aber hier ist ein Artikel darüber: https://www.rollingstone.com/politics/politics-news/cpac-speaker-transgender-people-eradicated-1234690924/
Es handelt sich um die Journalistin Samira Ahmed und eine Kinovorstellung im Londoner Barbican Theatre. Wer recherchieren möchte: Nur ein Set von mehreren im Gebäude verteilten Toiletten wurde genderneutral gestaltet, alle anderen blieben zweigeschlechtlich. Ahmed hätte also ohne große Mühe eine Frauentoilette aufsuchen können.
https://williamsinstitute.law.ucla.edu/publications/safety-in-restrooms-and-facilites/ (Der Wissenschaftlichkeit halber schreib ich es auch mal dazu: Das sind jetzt auch nur zwei Studien von einem Institut, die sich beide auf die USA beziehen — ob andere Studien mit anderen Methoden in anderen Kontexten zu ähnlichen Ergebnissen kommen, ist unklar.)
Ich habe einen Essay über die Aufmerksamkeitsökonomie geschrieben und einen Selbstversuch zur Smartphone-Entgiftung dokumentiert.
Einer der bekannteren Fälle ist der von Oury Jalloh, der bis heute nicht aufgeklärt ist.