Manchmal stelle ich mir vor, ich fahre Auto auf einer endlosen Straße und höre Holly Herndons Eternal.
Ich fahre an fußballfeldgroßen Parkplätzen vorbei, auf denen kaum ein Auto steht. An ihren Rändern kleben wie vergessen einstöckige Gebäude; als ginge es nicht um sie, sondern um den gigantischen leeren Platz davor.
Vielleicht mache ich entlang der Straße Halt an einer Tankstelle. Für Benzin und einen wässrigen Kaffee. Die Tankstelle ist kein Ort zum Verweilen, sie ist ein Ort der Durchreise: mir begegnen abgeschlagene Gestalten der Straße, und wie sie bin ich eine Gestalt der Straße.
Jedes Mal, wenn ich diese Fantasie zu verorten versuche, datiere ich sie in eine post-apokalyptische Zukunft; in der es nichts gibt, außer dem Weg. Obwohl es um Bewegung geht, liegt in dem Bild für mich etwas Statisches: Die endlose Straße, die Hitze über dem Asphalt.
Allein bin ich mit meiner Faszination für die Straße nicht. Sie hat ein ganzes Genre inspiriert.
Auf YouTube suche ich Videos mit „Road“ im Titel. Wenn das Thumbnail zu meiner Vorstellung passt, klicke ich darauf.
So entdecke ich den Channel Not Just Bikes. Darin redet der gebürtige Kanadier und Wahl-Niederländer Jason über die stadtplanerischen Entscheidungen, die urbanen Räumen ihren Charakter geben. Immer wieder tauchen in seinen Videos die Betonwüsten und endlosen Straßen aus meinen Vorstellungen auf - allerdings als Negativfolie. Stundenlang liege ich bäuchlings auf meinem Bett und schaue Jasons Videos. Ich schaue ein Video über Business Parks, jene parkplatzdominierten Gebiete in den Stadtperipherien. Ich schaue ein Video über Fahrradwege in Kopenhagen. Ich schaue ein Video über eine gesperrte Autostraße in Amsterdam, in deren Mitte jetzt eine Grüninsel mit hölzernen Sitzgruppen steht. Ich schaue ein Video über autofreie Innenstädte.
Das große Thema von Not Just Bikes ist car dependency, die Abhängigkeit vom eigenen Auto.
Ich lerne, dass es in Nordamerika ganze Vorstädte ohne Bürgersteige gibt, in denen auch kürzeste Wege nicht ohne Auto zurückgelegt werden können. Ich lerne, wie man Straßenübergänge fußgängerfreundlich gestaltet (mit erhöhten Zebrastreifen).
Ich lerne, dass es einen Unterschied zwischen Streets und Roads gibt. Zumindest im Englischen. Das Deutsche bietet für beides erstmal nur Straße an. Wenn man die Unterscheidung verdeutlichen möchte, könnte man Road mit Autostraße übersetzen. Die Anwendungsbeispiele des online Wörterbuchs Leo.org zeigen, für wen Streets und Roads gemacht sind. Da steht zum Beispiel:
To go along the street - die Straße entlang gehen
To litter the street - Abfälle auf die Straße werfen
To live on a street - in einer Straße wohnen
Die Straße erschließt sich aus der menschlichen Perspektive. Man geht sie entlang, ist ihr nah genug, um den Abfall zu sehen. In der Straße wird gelebt. Selbst der Ausdruck auf der Straße leben - to live in the streets für Wohnungslosigkeit bezieht sich auf eine menschliche Größenordnung.
Wenn man dagegen sagt:
To pull off the road - an den Straßenrand fahren
spricht man aus der Perspektive der Autofahrenden.
Genauso ist off-the-road ein Ausdruck für geländegängige Fahrzeuge. Einë Fußgängerïn kann die Road nur überqueren (cross the road), sie nicht mehr entlanggehen: Die Road ist für Autos gemacht. Sie dient dem schnellen Fahren. Fußgängerïnnen und andere Verkehrsteilnehmerïnnen sollten sich auf ihr nicht aufhalten.
Ich lerne, dass es neben Streets und Roads aber auch Stroads gibt: gefährliche Hybride mit mehreren Fahrspuren, die zu hohen Geschwindigkeiten einladen, obwohl sich Radwege auf der Fahrbahn befinden, obwohl sie durch ein Stadtzentrum führen, obwohl Wohnhäuser die Straße säumen.
Es kommt mir vor, als würde sich mit diesen Videos ein neues Universum öffnen, das mir zuvor unbekannt war, und gleichzeitig präsent; als würde ich eine neue Sprache lernen: etwas mir zuvor Unverständliches, das meine Ohren nur als Geräusch wahrnahmen, übersetzt sich in einzelne Wörter, übersetzt sich in Bedeutung. Als ich nach dem Bingen meine Wohnung verlasse, durchquere ich einen Raum, den ich schon hunderte Mal gesehen haben muss, der mir aber auf einmal anders erscheint.
Um mit meinem Hund in den Park zu gehen, muss ich eine vierspurige Straße (STROAD, sagt mein Hirn) überqueren. Auf einmal wird sie mir in ihrer ganzen Hässlichkeit bewusst: Hier befinden wir uns in einer deutschen Studierendenstadt. Und die Adern der Stadt sind nicht etwa die autofreie Innenstadt oder die Parks, sondern die mehrspurigen Straßen, die das Zentrum kreuzen und schneiden. Sie teilen die Stadt in rechteckige Inseln. Als Fußgängerïn erlebe ich jede Autostraße als Grenze, die ich überqueren muss. Ich warte am Straßenrand auf die Grünphase der Ampel oder eine Lücke im Verkehr. Dass ich hier keine Priorität habe, ist mir schon so lange klar, dass es mir bislang nie auffiel.
Ich muss an das denken, was die Künstlerin Jenny Odell in Nichts Tun über den Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie schreibt:
„Es gibt noch weitere Gründe, die Aufmerksamkeit zu vertiefen, als nur um der Aufmerksamkeitsökonomie zu widerstehen. Jene Gründe haben mit der sehr realen Art und Weise zu tun, in der die Aufmerksamkeit - auf was wir unsere Aufmerksamkeit richten und auf was nicht - in einem ganz ernstzunehmenden Sinne unsere Realität entstehen lässt.“1
Odell erstellte ihre eigene Karte der Aufmerksamkeit, in dem sie die Namen von Dingen und Lebewesen lernte, mit denen sie ihre Realität teilte. Sie wälzte Handbücher und nutzte Artenbestimmungsapps, um die Pflanzen und Tiere benennen zu können, die sie schon immer umgeben hatten, ohne dass sie sie wahrnahm.
„Infolgedessen erschienen immer mehr Akteure in meiner Realität: Nach den Vögeln waren das Bäume, dann verschiedene Arten von Bäumen, dann die Käfer, die in ihnen lebten. Ich begann Tiergemeinschaften zu bemerken, Pflanzengemeinschaften, Tier-Pflanzen-Gemeinschaften; Bergketten, Verwerfungslinien, Wasserscheiden. Es war ein vertrautes Gefühl von Desorientiertheit, das ich an einem neuen, anderen Schauplatz realisierte. Abermals kam mir die unheimliche Erkenntnis, dass all dies schon vorher existiert hatte und in früheren Versionen meiner Realität für mich doch unsichtbar gewesen war.“2
Wie Jenny Odells Umgebung sich durch die Wahrnehmung von Vögeln und Insektenkolonien verändert; verändert sich durch die Wahrnehmung von Stadtdesign auch meine. In den nächsten Wochen sehe ich, wie viel Platz die Stadt für parkende Autos reserviert; an Straßenrändern, auf extra angelegten asphaltierten Flächen.
Zum ersten Mal in meinem Leben fällt mir auf, dass man auf Parkplätzen nicht viel anderes machen kann als parken. Als ich im Lockdown wieder anfing, Rollschuh zu fahren, ging ich am frühen Sonntagmorgen auf den Universitätsparkplatz - eben genau aus dem Grund: weil dort nie jemand war. Am Sonntagmorgen nicht mal Autos. So hatte ich eine leere, weite Fläche Asphalt für mich.
Ich beginne zu verstehen, warum ich manche Gegenden zu Fuß meide, während ich andere immer wieder aufsuche: es hat direkt damit zu tun, ob dieser Teil der Stadt für Autos oder für Fußgängerïnnen angelegt wurde.
erhöhte Fußgängerüberquerungen in einem Wohngebiet
Während ich durch meine veränderte Stadt laufe, erinnere ich mich an eine Zugfahrt mit meinem Mitbewohner. Wir vertrieben uns die Zeit, in dem wir aus dem Fenster sahen und uns Kriterien für eine lebenswerte Stadt ausdachten. Die meisten Kriterien habe ich vergessen. Ich weiß noch, dass wir Begrünung wichtig fanden; wie wenig die Stadt einer Betonwüste gleicht und wie viel Platz sie für Parks, Grünstreifen, Hecken, Sträucher, Straßenbäume lässt. Und ich weiß noch, dass wir ein Kriterium sehr wichtig fanden, das wir damals Draußigkeit nannten. Was wir damit meinten: Inwieweit sich das Leben der Stadt draußen abspielte. Auf den Straßen und öffentlichen Plätzen. Wir dachten an Straßencafés und Biergärten genauso wie an Skateparks, Spiel- und Bolzplätze, Parks, Marktplätze, vielleicht sogar einen öffentlichen Badesee oder Flussstrand. Orte, an denen Menschen verweilen, an denen sie ihre Freizeit verbringen.
Heute würde ich sagen, auch Straßen können eine bessere oder schlechtere Draußigkeit aufweisen. Straßen sind schließlich auch Räume, die von Menschen betreten und durchquert werden. Transitionale Räume. Eine Straße, die von Menschen außerhalb ihrer Autos benutzt wird, ist viel draußiger als eine reine Autostraße, neben der sich einë einzelnër Fußgängerïn über den Bürgersteig bewegt.
Ich denke an die Zeit, in der ich in Berlin wohnte, an der S-Bahn-Station Hermannstraße. Von meiner Wohnung lief ich nur zehn Minuten zum Tempelhofer Feld; jener riesigen Freifläche, die sich auf dem ehemaligen Flughafengelände Tempelhof befindet. Ich ging dorthin zum Joggen oder Lesen oder zum Grillen mit Freundïnnen. Wenn ich zur Uni fuhr, führte mein Weg über eine der ehemaligen Startbahnen. Wenn ich traurig war, wanderte ich übers Feld und betrachtete die an den Horizont gedrückten Flughafengebäude in der Ferne.
Damals war das Feld einfach da. Jetzt erscheint seine Existenz mir wie ein Wunder. Eine Freifläche so groß, dass sie auf jeder Luftaufnahme der Stadt heraussticht.
Ich erinnere mich an eine Bürgerïnnenbewegung zum Erhalt des Felds, der ich einmal meine Unterschrift gab. Als ich danach google, sagt Wikipedia mir, dass es ursprünglich einen Bebauungsplan gab, gegen den sich eben diese Bewegung wehrte. Sie führte einen Volksentscheid herbei, der deutlich für einen Erhalt der Fläche stimmte.
Das ist der eine Teil der sozialen Frage menschenfreundlicher Städte: Flächen vor dem kapitalistischen Zugriff zu bewahren.
Der andere Teil betrifft die Menschen.
Ich schreibe aus keiner allzu prekären Situation heraus; ich muss dank eines Bürojobs mit geregelten Arbeitszeiten, verschiedenen freiberuflichen Tätigkeiten und meiner familiären Herkunft, in der es immer für mehr als das Nötigste reichte, nicht um meine Existenz fürchten. Heißt: Ich verfüge über freie Zeit. In dieser freien Zeit kann ich mit meinem Hund durch die Stadt spazieren, in Parks sitzen, in Cafés schreiben.
Aber diese freie Zeit ist nicht selbstverständlich.
Erst vor wenigen Wochen ging in den USA der Writer’s Strike zu Ende, bei dem gewerkschaftlich organisierte Schreibende unter anderem gegen Kurzzeitverträge und höhere Tantiemen auf die Straße gingen. Das erklärte Ziel des Streiks war nichts weniger, als sicherzustellen, dass es weiterhin möglich wäre, vom Schreiben zu leben.
Eine Wirtschaftslage, in der Scheinselbstständigkeiten und auf wenige Wochen befristete Arbeitsverträge zunehmen, bedroht zunehmend unsere Freiräume. Gerade Unternehmen wie Uber, Flink, Gorillaz, Clickworkers brechen gewaltsam in die privaten Freiheiten ein, sie kleben sich in marktfreie Nischen und monetarisieren sie. Mit dem eigenen Auto, dem eigenen Fahrrad, dem eigenen Handy verkaufen Arbeitende ohne feste Verträge die eigene Zeit in kleinen Stücken für algorithmisch berechnete Preise.
Auch Jenny Odell thematisiert in Nichts Tun die Gleichzeitigkeit des Verschwindens von unproduktiven städtischen und psychischen Räumen im Spätkapitalismus. Hier finde ich einen Verweis auf die 8-Stunden-Bewegung, der wir die Begrenzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche zu verdanken haben. Die Bewegung wurde vor allem während der Industrialisierung laut und hatte zum Ziel, die Arbeitszeit zu reduzieren und die Löhne zu erhöhen.
Short Hours - Long Wages finde ich auf einem Poster der Industrial Workers of the World. Und: All Will Have Work; alle werden Arbeit haben.
Erst wenn freie Zeit wirklich zur Verfügung steht, wenn Obergrenzen für Arbeitszeiten festgelegt werden und Löhne entsprechend angehoben, wird Freizeit möglich. Und erst damit können urbane Räume als das bevölkert werden, was sie sind: Räume für Menschen.
Nicht für Maschinen, nicht für Profitinteressen.
Und damit lasse ich das Bild der Betonwüste und endlosen Straße hinter mir, mit dem dieser Essay begonnen hat. Denn vielleicht ist die Vorstellung eines Roadtrips durch diese apokalyptische Landschaft verlockend. Aber nur als transitionaler Raum sind mehrspurige Straßen und ausgedehnte Parkplätze überhaupt vorstellbar.
Leben können wir dort nicht.
Dieser Text gehört zur Edition GESCHWINDIGKEIT des einwortKollektivs.
Bisher erschienen ist Kea von Garniers großartiger Text über die Geschwindigkeit des Lebens. Er hat mich sehr berührt und ich kann ihn nur wärmstens empfehlen.
In den nächsten zwei Wochen werden Texte auf folgenden Substacks folgen:
Vivian Sper: Der schöne Schein
Franzi K.: Buchstaben belichten
oliwia: oliwias notatka Oliwia hat auch diesen Text lektoriert; ihr haben wir (also ich und ihr) die sehr viel bessere zweite Version zu verdanken. Danke!
Jenny Odell, Nichts Tun. S. 171.
auch Odell, S. 173.
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