Als Donald Trump im November zum Präsidenten der USA gewählt wird, fühle ich mich wie mein liebster 2000s-Alt-Rock-Hit: Numb. Es braucht Tage, um die Taubheit zu durchbrechen und das Entsetzen darunter zu fühlen. Ein paar weitere Tage später zerbricht die Bundesregierung. Auf einmal fühlt sich alles ungewiss an — als zerfiele die Welt und ihre Einzelteile nähmen spitze und bedrohliche Formen an.
Neuwahlen werden angesetzt. Auf dem Weg zur Arbeit passiere ich jeden Tag einen AfD-Stand in der Fußgängerzone, als hätte er dort einen festen Verkaufsplatz. Kein Wunder, denke ich, dass die bei dieser Präsenz so erfolgreich sind.
Ich überlege, ob ich vielleicht auch Wahlkampf machen sollte. Für welche Partei weiß ich zwar nicht genau, weil irgendwie finde dich doch an allen was blöd. Irgendwas anderes als CDU und AfD wäre aber ein Anfang.
Eigentlich mag ich Parteipolitik gar nicht. Das habe ich schon während meiner Schulzeit gemerkt, als ich eine prägende zeitlang bei der Grünen Jugend war. Während mir die endlosen Sitzungen, bei denen ich stillsitzend Abstimmungen gefolgt von Abstimmungen lauschte, als der Inbegriff von Stillstand erschienen; liebte ich jedoch — wie alle jungen Möchtegernrevolutionäre — politische Gespräche bei einem Bier, die Anti-Atomkraft-Demos und alles mit ein bisschen Krawall und Remmidemmi. Es war die Zeit des Atomausstiegs, der Occupy-Bewegung und wir waren viele; wir waren die Neunundneuzig Prozent. Ich war sechzehn und alles fühlte sich möglich an.
Im Dezember schreibt mir mein*e Freund*in J., ob ich Anfang Januar mit nach Riesa fahren wolle und dort gegen den AfD-Parteitag protestieren. Ich denke daran, wie mühsam ich mir die nächsten Wochen terminfrei gehalten habe, um endliche meine Masterarbeit zu beenden. Ich stelle mir vor, nachts mit J. und Dutzenden anderen Menschen in einen Bus zu steigen, dösend nach Riesa zu fahren und stundenlang in Kälte und Regen auf einer Straßenkreuzung zu verharren. Ich denke an mein Immunsystem, das seit einer zweiten COVID-Erkrankung von jeder Windbö außer Kraft gesetzt wird.
Nein, schreibe ich J.
Im Januar fühlt sich alles ein bisschen nach Weltuntergang an. Die AfD wandelt den SA-Slogan “Alles für Deutschland” in “Alice für Deutschland” um, der reichste Mann der Welt macht zwei Hitlergrüße auf der Vereidigungszeremonie des amerikanischen Präsidenten und eine Kooperation von CDU und AfD stimmen für einen Antrag zu einer rechtswidrigen Verschärfung des Asylrechts im Bundestag.
Immer öfter liege ich nachts wach und habe Angst vor einem faschistischen Umsturz, vor Krieg, davor als queerer, linker Mensch Opfer einer Gewalttat zu werden.
Ich erinnere mich an das einzige, was hilft. Tätig zu werden.
Ich erinnere mich an ein Video des Comedians und Mitorganisatoren des Writer’s Strike, Adam Conover. Kurz vor den US-Wahlen erinnerte Conover daran, dass Demokratie aus mehr besteht als einem Kreuz in der Wahlkabine. Demokratie besteht aus Protesten, daraus sich politisch zu organisieren, für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft einzustehen und dafür zu sorgen, dass diejenigen Politiker*innen gewählt werden, die das auch tun. Mittels Haustürwahlkampf, wenn nötig. Aktiv demokratisch zu handeln sieht Conover als wirksamstes Mittel dagegen, sich fortwährend wegen der politischen Lage zu beunruhigen.1
"So look. You gotta get through your stages of grief about Trump. The man is popular, his policies are popular, and yes, he could win. But despite that, I am still not worried about the election. Because worry is a useless fucking emotion that does nothing but paralyze and control us. Why do so many of us follow the polls day after day when we already know how we'll vote? Why are we glued to cable news on election night when we know that doesn't change the outcome?”2
Politisch aktiv werden hilft gegen Ohnmachtsgefühle und stärkt unsere Resilienz. Das weiß ich nicht nur aus meinen Erfahrungen mit Klimaangst und Klimaaktivismus. Auch Forschung zeigt die positiven Effekte auf unsere Gesundheit, wenn wir im Rahmen unserer Möglichkeiten ins Handeln kommen.
Vielleicht liegt es daran, dass ich älter und geduldiger geworden bin, vielleicht daran, dass ich mittlerweile weiß, dass langweilige Abstimmungen notwendig sind. Jedenfalls trete ich dann doch wieder in eine Partei ein. Nachdem Olaf Scholz sich im Oktober 2023 für “Abschiebungen im großen Stil” aussprach, und auch die Grünen in den Wettbewerb um die menschenverachtendste Asylpolitik eingestiegen sind, ist für mich nur noch die Linke vertretbar.
Ein paar Tage später kriege ich eine Nachricht vom Kreisverband in meiner Stadt. Ob ich beim Haustürwahlkampf unterstützen wolle.
Am Tag meines ersten Wahlkampf liege ich im Bett und habe Angst, mit fremden Menschen zu sprechen. Mir ist schwindelig und schlecht.
Trotzdem bin ich pünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Mit mir ist L. da, der auch zum ersten Mal Wahlkampf macht. Wir kriegen eine Einführung: Es geht nicht darum, mit AfD-Wähler*innen zu diskutieren. Stattdessen konzentrieren wir uns auf Menschen, die offen sind, mit uns zu sprechen. Es geht nicht in erster Linie um Kreuzchen in der Wahlkabine. Sondern ums Zuhören. Darum, zu erfahren, welche Nöte die Menschen umtreiben. Auch Einladungen zur kostenlosen Sozialsprechstunde, zur Hausaufgabenbetreuung und Solidarischen Küche sollen ausgesprochen werden.
Damit man gleich erkennt, wer da an der Haustür klingelt, kriegen wir Westen und Jutebeutel, auf denen fett gedruckt DIE LINKE steht. Es fühlt sich komisch an, so deutlich als Teil einer Partei erkennbar zu sein. Als müsste ich alles mittragen, was die Partei je gemacht hätte - inklusive SED-Vergangenheit und peinlichen Wahlplakatsprüchen wie “Probleme lösen? Mit Links!”.
Auf dem Weg zum Wahlbezirk fährt hupend ein Auto vorbei. Der Wagen verlangsamt, ein Fenster wird heruntergekurbelt. Ich zucke zusammen. “Viel Erfolg!”, ruft uns ein junger Mann of Colour zu.
Ich schäme mich für meine erste Reaktion.
Später gehe ich mit R. von Tür zu Tür. Viele bleiben zu. Andere öffnen uns. Wir sprechen mit Studierenden, die von der Uneinigkeit der Linken enttäuscht sind. Wir sprechen mit Menschen, deren deutsch gebrochen ist und die kein Wahlrecht haben. Wir sprechen mit einem Paar, das die rassistische Stimmung gegen Geflüchtete besorgt verfolgt. Wir sprechen mit einem jungen Mann, vielleicht 18 Jahre alt, der sagt: “Ich wünsch mir weniger Hass. Man muss nur Social Media aufmachen und da ist alles voller Hass.” An einer Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift: “Sie verlassen das Gebiet der Deutschland GmbH. Eintritt nur nach Aufforderung” R. und ich huschen zum Ausgang, bevor jemand uns sehen kann.
Auf der Straße sprechen uns zwei Jugendliche an.
“Wie findet ihr die AfD?”, fragt einer.
“Scheiße”, sagt R.
“Wir auch. Wir wollen nicht, dass alle abgeschoben werden.”
Als wir nach Hause gehen, ist es bereits dunkel. L. erzählt mir, dass der Rechtsruck ihm krass Sorgen bereite und er etwas dagegen tun wolle. Er sei auch schon nach Riesa gefahren, um den AfD-Parteitag zu blockieren, und jetzt mache er eben Wahlkampf.
“Wie war es in Riesa?”, frage ich.
“Hat sich echt nice angefühlt, dass man so eine Veranstaltung wirklich um Stunden verzögern kann.”
“Und die Polizei? Habt ihr was abbekommen?”
“Nö”, sagt L. “Wir sind dann irgendwann einfach freiwillig gegangen.”
Ich denke an das Ende von Adam Conovers Video: “The cure for worry isn’t better poll numbers. It isn’t a candidate who says all the right things. It isn’t a good outcome on CNNs magic wall. It’s you. Hitting the pavement with your friends.”3
In Deutschland gehen seit Jahresbeginn über 1,5 Millionen Menschen gegen den Rechtsruck auf die Straße. Das erklärte Ziel: Rechts wählen uncool machen. Ein Protest in meiner Stadt wird zur größten Demonstration der Stadtgeschichte. Die Gegendemo besteht aus einem einzigen Typ mit Deutschlandflagge, der bedröppelt dem Protestzug hinterherschlurft.
Meine Schritte fühlen sich federnd an auf dem Asphalt.
Conover spricht von worry. Die nächste deutsche Übersetzung wäre eigentlich sich Sorgen machen, aber das ist anders konnotiert. Während im Deutschen sorgen das Kümmern mitschwingt, liegt das Englische to worry näher am sich plagen/quälen/beunruhigen.
“Schaut mal. Ihr müsst eure Trauerphasen wegen Trump überwinden. Der Mann ist beliebt, seine Politik ist beliebt, und ja, er könnte gewinnen. Und trotzdem quäle/plage ich mich nicht. Denn das ist eine nutzlose Emotion, die nichts tut, außer uns zu lähmen und zu kontrollieren. Warum verfolgen so viele von uns Tag für Tag die Umfragen, wenn wir bereits wissen, wie wir wählen werden? Warum kleben wir in der Wahlnacht vor dem Fernseher, obwohl wir wissen, dass das nichts am Ergebnis ändert?” aus Adam Conover, Why I’m Not Worried About The Election, auf YouTube.
"Das Mittel gegen die Beunruhigung sind nicht bessere Umfrageergebnisse. Es ist kein*e Kandidat*in, die all die richtigen Sachen sagt. Es ist nicht das erwünschte Ergebnis auf CNNs magischer Wand. Es bist du. Auf der Straße mit deinen Freund*innen.”
So mutig! Und ermutigend!!! ☺️
Habe beim Haustürwahlkampf auch einiges erlebt und ich kann bestätigen, dass es sich unglaublich gut anfühlt, etwas gegen die Ohnmacht zu tun ☺️