Die Content Note steht im Titel.
Ich gucke nur ganz selten Serien. Nur wenn ich krank bin. Nur, wenn sie nicht mehr als zwei, drei Staffeln haben. Weil ich immer direkt süchtig werde. Bis fünf Uhr morgens binge, obwohl ich am nächsten Tag früh raus muss.
Naja. Ich war krank. Und die erste Staffel von Everything Now gerade erst erschienen.
Wo andere Erzählungen von Anorexie aufhören, fängt Everything Now an: Mia, 16 Jahre, verbrachte die letzten 7 Monate in einer Klinik. Zu Beginn der ersten Folge wird sie entlassen. Sie trifft ihre Friends wieder, doch die führen nun andere Leben, sie gehen auf Partys, rauchen, haben Sex. Mia will alle Ersten Male nachholen, die sie verpasst hat. Über 8 Folgen entfaltet sich die ganze schreckliche glamouröse alltägliche Welt: Schule, Partys, Dates, Trinkspiele. Mit 16 ist es everything.
Ich kenne alle Anorexiegeschichten
Als Ex-Anorektiker*in kenne ich jeden Film und jedes Buch, das dazu erschienen ist. Ich zog mir den Scheiß rein, um mich zu triggern. Es funktionierte immer.
Your standard Anorexiegeschichte geht so:
Protagonistin fühlt sich dick > macht Diät > Diät gerät außer Kontrolle > Protagonistin bricht zusammen > wird zwangseingewiesen > Klinik > ZEITSPRUNG > alles wieder gut.
Die Protagonistin ist eine ehrgeizige oder unauffällige junge feminine weiße Frau. Sie steht im Schatten ihrer besten Freundin/Schwester/Mitbewohnerin/Mutter, ist Fan eines sehr dünnen Models/Schauspielerin/anderen Mädchens und möchte in eine ganz bestimmte Hose/Kleid/Top passen. Erst als sie offensichtlich krank ist, sehen alle wie sehr sie eigentlich leidet.
Dabei folgen wir dem Point of View der Protagonistin, nehmen ihren Standpunkt ein und werden in die Eigenlogik der Krankheit hineingezogen. Die Erzählung bietet kein Korrektiv: das Versprechen des Gesehen-Werdens im Kranksein löst sich ein.
Die meisten Erzählungen blicken voyeuristisch auf den ausgemergelten Körper. Er wird in Rippen/Wirbel/random andere Knochen zerlegt. Das soll normale Menschen wahrscheinlich schockieren, für die eingeweihten crazy people ist es geile THINSPO.
Der voyeuristische Blick findet sich auch in Erzählungen, in denen die Anorektikerin nicht die Hauptrolle spielt und die deshalb vom Standardplot abweichen. Manchmal wird der Körper dabei auch ganz seltsam erotisiert - ich denke an eine Sexszene in Vincent will Meer.
Everything Now ist anders.
Mia und ich, wir sind uns in gewisser Weise sehr ähnlich. Wir sind beide androgyn, wir haben eine Anorexiegeschichte, unsere Eltern sind geschieden, wir haben ein Geschwisterkind. Natürlich sind wir auch sehr unterschiedlich: Mia ist Schwarz, ich bin weiß, Mias Familie ist sehr wohlhabend, meine nicht.
Ich mochte, dass Mias Geschichte zu dem Zeitpunkt beginnt, an dem die allermeisten Anorexiestorys enden. Mit der Entlassung aus der Klinik ist die Heilung nämlich nicht abgeschlossen: Sie beginnt gerade erst. In einer Folge sagt Mia sogar selbst: Die durchschnittliche Heilungszeit dauert sieben Jahre.
Auch steht die Anorexie nicht im Zentrum der Erzählung. Es geht um Mia, um FOMO, um Teenage-Cringe, um Erste Male (Party Alkohol Drogen Sex Verliebtsein Beziehung Ehrlichkeit), um Familie und wie kompliziert diese Dinge für Mia zu navigieren sind. An keiner Stelle lässt die Serie Zweifel daran, dass die Anorexie Ausdruck eines anderen Problems ist. Was dieses andere Problem ist, lässt sich aber gar nicht so einfach sagen: Es hat mit Zuhausefühlen im eigenen Körper zu tun, mit Rollenerwartungen, familiären Beziehungen, sozialer Unsicherheit.
Was ich noch an der Darstellung der Krankheit mochte:
keine voyeuristischen Blicke auf ausgemergelte Körper
Mia ist nicht feminin, vielleicht nichtmal weiblich
Die Kontrollmechanismen, die eine*n Anorektiker*in retten, fühlen sich für Mia nicht gut an. Nicht als würde sich gekümmert, als würde man gerettet. Sondern als wäre man ein Ding. Trotzdem sind diese Maßnahmen überlebensnotwendig.
Die innere Wettbewerbslogik der Krankheit wird offen gelegt: Es geht nicht um Schönheitsideale. Sondern darum, wer am kränksten ist. Bis zum bitteren Ende.
Obwohl die Serie empathisch mit Mia ist, deckt sich der Erzählstandpunkt mit ihrem Point of View nicht: Wir sehen die Dysfunktionalität ihres Handelns, ohne das Mitgefühl mit Mia zu verlieren.
Ich gebs zu: Die Anorexieerzählung war mein emotionaler Anker zu der Serie. Und boy, did it make me cry. Es war, als könne ich durch Mia zum ersten Mal um die Dinge trauern, die die Krankheit mir kaputt gemacht hat.
Und sonst? Toxic Masculinity und queere Bitches
Everything Now bietet aber nicht nur Magersucht. Dann würde ich diese Rezension nicht schreiben. Ich mochte die Figuren, fand ihre Handlungen glaubwürdig, und auch die Stock Charaktere hatten mehr Tiefe, als ich auf den ersten Blick vermutet hätte. Die kaltherzige Mom kriegt zum Beispiel einen Character Arc, sie bleibt nicht Villain wie so viele Mütter - gerade von Anorekterinnen.
Besonders gefreut haben mich die Männerdarstellungen. Bei allen Diskursen um Toxische Männlichkeit auf der einen und Verehrung moralisch undurchsichtiger Helden1 auf der anderen Seite, vermisse ich Männerfiguren, die mit Rollenerwartungen kämpfen. Ich vermisse, dass Männer gezeigt werden, die Gefühle haben; alltägliche Gefühle, komplexe Gefühle. Nicht nur die einsame Träne des stolzen Vaters, der zum ersten Mal sein Kind im Arm hält.2 Ich vermisse, dass gezeigt wird, wie dysfunktional männliche Rollenerwartungen oft sind und wie oft sie reproduziert werden.
Everything Now hat sie jedenfalls. Männer, die Gefühle haben, und nicht wissen, wohin damit. Besonders mochte ich die Darstellung von Cameron, Mias bestem Freund. Cameron ist die vielleicht einsamste Figur der Serie. Im Gegensatz zu seinen Freundinnen bietet niemand ihm ein offenes Ohr an. Man schaut ihm beim Toxicsein zu, während man denkt, dieser Junge braucht ganz dringend jemand zum Reden.
Eine Freundin von mir hat neulich das Wort “queernormatives Worldbuilding” benutzt. Heißt quasi: Queerness ist der erzählten Welt so stark eingeschrieben, dass es nicht länger queer (Originalbedeutung: seltsam) genannt werden kann. Wer sowas noch nie gesehen hat, wird in Everything Now fündig. So. Much. Gayness✨
Watchmens Rohrschach, Dexters Dexter, DCs Joker, DCs Batman, Star Wars’ Han Solo, Breaking Bads Walter White - the list goes on.
Ich hab die Serie jetzt auch durch und fand sie toll! Danke für deinen Input :)
Oh wow, der Trailer hatte mich schon neugierig gemacht, aber jetzt will ich es unbedingt sehen.😁 Danke für den Text!