I Depressionen
Im Laufe meines Bachelorstudiums entwickelte ich eine morbide Obsession mit Darstellungen von Depression in den Sozialen Medien. Ich folgte einigen Hashtags (#depression, #depressionawareness, #depressionfighter) und scrollte stundenlang durch einen Feed voll Fotos in entsättigten Farben. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir Bilder von blasser Haut. Hände und Unterarme mit Narben oder Semicolontattoos auf den weißen Laken erstaunlich sauberer Betten. Zur Ästhetik der Depression gehörten aber auch qualmende Zigaretten zwischen dünnen Fingern, Nahaufnahmen von Gesichtern mit geschlossenen Augen und Schattenwürfe an weißen Wänden.
In feministischen Blogartikeln las ich, dass die Sichtbarkeit psychischer Erkrankung auf Social Media zu deren Entstigmatisierung beitrage. Unter Hashtags wie #notjustsad oder #endthestigma berichten Betroffene davon, wie sich Depressionen wirklich anfühlen.
Den Gedanken konnte ich nachvollziehen. Sichtbarkeit, egal wo, bedeutet ja erstmal genau das: in Erscheinung treten. Ich stellte mir diese Entstigmatisierungskampagne immer als eine Art Gleichung vor.
Authentische Sichtbarkeit in = Beschämung out ➝ Stigma out
Damals wie heute fuchste mich aber zweierlei.
Problem Nummer I ist unter dem Namen compare and despair bekannt, und es durchzieht die Sozialen Medien, vor allem Instagram. Die kuratierten Selbstinszenierungen der anderen sehen immer besser aus als die eigenen. Das gilt auch für die kuratierte Depression: Ich brauche nicht einmal eine depressive Episode, um weniger weiße, saubere Bettlaken zu haben. Egal wie ich meine Hände darauf lege: Nie sehen sie so zerbrechlich, so zart und blass aus wie die von Fremden im Internet.
Problem Nummer II konnte ich jedoch nicht so richtig fassen, und vielleicht war es das, dieses Fehlen eines pointierten Ausdrucks, was mich so lang so morbide fasziniert hielt. Es schien eine Leerstelle zu geben. Um sie zu füllen, las ich wie besessen.
Ich kaufte mir ein Buch mit dem Titel Kreation und Depression und studierte es sorgfältig. Einen Essay des Soziologen Alain Ehrenberg, der die Kulturgeschichte der Depression untersuchte, zog ich mir so oft rein, dass ich heute noch Stellen daraus auswendig kann. Ehrenberg sieht die Depression als einen Rahmen oder eine Brille, durch die die Gegenwart auf eine bestimmte Art sichtbar wird:
„Depression ist eine Reaktion auf die veränderten Bedingungen; sie macht die Schwierigkeiten sichtbar, die für die Einzelnen bei dem Versuch auftreten müssen, sich in einer Gesellschaft, die alles auf Eigeninitiative und Selbstverwirklichung setzt, selbst eine Struktur zu geben.“1
Parallel zu Ehrenberg las ich das Werk eines anderen Soziologen, Andreas Reckwitz’ Gesellschaft der Singularitäten. Reckwitz diagnostiziert der Gegenwart darin ein systematisches Hervorbringen von Besonderheit. Als „soziale Logik des Besonderen“ löst die Singularisierung die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehende „soziale Logik des Allgemeinen“ der Industriegesellschaft ab. War die Industriegesellschaft gekennzeichnet durch das Streben nach Gleichförmigkeit und sozialer Unauffälligkeit - man denke Reihenhaus, Anzug, Großraumbüro - wird die Spätmoderne (Reckwitz’ Worte, nicht meine) von Besonderheit durchzogen - man denke an extrem spezialisierte Jobbeschreibungen, und ganz allgemein Profile - einer Schule oder einer Presseagentur oder Social Media.
Und trotzdem: Weder Reckwitz’ noch Ehrenbergs Analysen konnte mir helfen, Problem Nummer II zu benennen. Ich war mir sicher, dass sich irgendwo zwischen dem trockenen soziologischen Vokabular eine handfeste Kapitalismuskritik verbarg. Aber ich fand sie nicht, ich umkreiste die Leerstelle nur fragend, und irgendwann überzeugte ich mich selbst von ihrer Unbedeutsamkeit.
II Kapitalismus
Erst viel später, nach einer Pandemie und zu vielen Stunden auf einem durchgelegenen Schlafsofa voller Kaffeeflecken in Social Media und News-Feeds versinkend, begegnet mir die Leerstelle wieder.
Eines Abends liege ich auf diesem fleckigen Sofa und lese den hier schon mehrfach erwähnten Essay der Künstlerin Jenny Odell mit dem Titel How To Do Nothing. Darin erkundet Odell ihr Bedürfnis, nach den US-Wahlen von 2016 immer wieder einen öffentlichen Rosengarten aufzusuchen, um dort nichts zu tun. Sie beschreibt, wie sie in der Marketingabteilung eines Großunternehmen in einem Results Only Work Environment arbeitete; einem Arbeitsmodell der völligen Entgrenzung, einer de-facto-Abschaffung des Acht-Stunden-Tages zugunsten eines potenziellen 24-Stunden-Tages: Die Arbeit wird nicht mehr in Zeit bemessen und im Büro erledigt, das man um 9 betritt und um 5 verlässt. Stattdessen zählen results only, nichts als Ergebnisse - egal, wie viel Arbeitszeit die kosteten oder ob man das Bett, den Küchentisch, einen Starbucks zum Arbeitsplatz machte.
In der Aufmerksamkeitsökonomie wird Zeit zu einer Ressource, deren Nutzen wir maximieren müssen. Jede Lebensminute ist mögliche Lohnarbeitszeit. Odell schreibt:
„In einer Situation, in der jeder Moment für unseren Lebensunterhalt relevant geworden ist und in der wir sogar unsere Freizeit einer numerischen Bewertung per Likes auf Facebook und Instagram unterziehen, deren Performance wie eine Aktie überprüfen, die Entwicklung unserer Personal Brand überwachen, wird Zeit zu einer wirtschaftlichen Ressource, die wir nicht mehr für „nichts“ ausgeben können. Es bietet keinen Mehrwert; es ist einfach zu teuer.“2
Ich schaue aus dem Fenster, das mir mein eigenes Spiegelbild verschwommen zurückwirft und denke daran, wie wir Bezeichnungen aus der Arbeitswelt für Phänomene nutzen, die eigentlich nichts mit Lohnarbeit zu tun haben (sollten): Trauerarbeit, Aufklärungsarbeit, Gedächtnisarbeit.
Als Feminist*in sah ich diese Begriffe immer als Nachkommen der Worte Reproduktionarbeit, Care Work oder Fürsorgearbeit. Mit der Umdeutung von Haushaltstätigkeiten und Kinderbetreuung als unbezahlte Arbeit benannten marxistische Feminist*innen den inhärenten Sexismus des Kapitalismus, der Frauen prekäre, häusliche Abhängigkeitsverhältnisse zuwies. Gleichzeitig würde der Kapitalismus ohne diese (unbezahlte) Arbeit nicht funktionieren: niemand könnte lohnarbeiten, ohne dass si*er von jemandem aufgezogen worden wäre oder essen würde oder ein Minimum an Sauberkeit in der eigenen Wohnung herrschte.3
Der Begriff Aufklärungsarbeit, häufig auch unbezahlte Aufklärungsarbeit, bezieht sich auf Diskriminierungen. Er benennt die Schieflage, in der Angehörige marginalisierter Gruppen sich oft befinden, wenn sie Ungerechtigkeit erfahren: Bevor etwas gegen die strukturelle Diskriminierung getan wird, müssen die Betroffenen sich erklären; das heißt: erklären, wie Rassismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus funktionieren, kurz unbezahlte Aufklärungsarbeit leisten, anstatt Hilfe zu erhalten. In einer Situation der Not, wird ein bestimmtes Verhalten von den Notleidenden verlangt.
Und dann frage mich, ob Trauerarbeit oder Gedächtnisarbeit oder Beziehungsarbeit auch eine Schieflage aufdecken und wenn ja, welche. Oder ob wir nicht aufpassen sollten, unsere menschlichen Bedürfnisse mit den Worten eines kapitalistischer Ausbeutung zu benennen. Ob mit der Benennung nicht eigentlich eine stille Kapitulation vor dem Results Only Work Environment stattgefunden hat: Wenn jede Minute Arbeit sein kann, kann ich vielleicht nur trauern, traurig, depressiv sein, wenn ich diesen Zustand als Arbeit verstehe. Selbst in der Zermürbung durch Selbstzweifel und Antriebslosigkeit arbeitet man an der eigenen Performance, der eigenen Brand.
III Eyjafjallajökull
Während ich auf meinem kaffeebefleckten Schlafsofa meinen Instagram checke, denke ich an meinen Wunsch, ein Vulkan zu werden. Nicht irgendein Vulkan, sondern derjenige isländische Vulkan, der 2010 bei mehreren aufeinanderfolgenden Eruptionen eine schwer zu schätzende Menge Asche in die Luft schleuderte, Winde verstreuten sie über die gesamte nördliche Hemisphere. Unsicher, ob die Partikel Schaden in Flugzeugturbinen anrichten würden, stellte man den Flugverkehr über weiten Teilen Nord- und Mitteleuropas ein. Und die berichtenden Nachrichtensprecher*innen stolperten über die konsonantenreichen Silben des Namens Eyjafjallajökull, als befänden sich auch die Buchstaben im Widerstand.
Alain Ehrenberg: „Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität.“
Jenny Odell: How To Do Nothing.
Caliban und die Hexe von Silvia Federici ist ein extrem empfehlenswerter feministischer Klassiker zum Thema (unbezahlte) Hausarbeit; wie es dazu kam, was Hexenverbrennungen damit zu tun haben und wie das in Verbindung mit dem Transatlantischen Sklavenhandel steht.