You know it’s not the same as it was, heißt es in Harry Styles Hit, der im Frühjahr 2022 die Charts anführte. Mit dem beginnenden Frühling kamen wir wie Winterschläferïnnen aus der Isolation gekrochen, machten Nasenabstriche um auf die ersten Partys zu gehen, fuhren Freundïnnen und Großeltern in anderen Städten besuchen oder saßen in verrauchten Kneipen. Ein bisschen unwohl war uns vielleicht, oder mir zumindest: Ich hatte mich bisher noch nicht infiziert. Und so zog ich mir die FFP2-Maske über Mund und Nase, um ein neues Getränk an der Bar zu bestellen; im Hintergrund lief Harry Styles wie ein Soundtrack für das Ende der Lockdowns.
Mit dem Coronavirus habe ich mich im März diesen Jahres infiziert. Acht Tage lang zeigten die Antigentests zwei rote Streifen. Acht Tage lang lief meine Nase, ich hustete Schleim, Kopfschmerzen fraßen mein Hirn auf. Eigentlich das, was man als einen milden Verlauf bezeichnet. Unangenehm, ja, wie ne Grippe halt.
Das Problem ist nur: Nach zehn Tagen war es nicht vorbei.
Der Begriff „Long COVID“ umfasst Beschwerden, die mehr als vier Wochen nach Ansteckung mit dem Coronavirus fortbestehen, sich verschlechtern oder neu auftreten. Es darf außerdem keine andere Erklärung für die Beschwerden geben. Zu Long COVID gehört auch das Post-COVID-Syndrom. Als Post-COVID-Syndrom bezeichnet man Beschwerden, die noch nach drei Monaten bestehen und mindestens zwei Monate lang anhalten oder wiederkehren.1
Welche Beschwerden?, könnte eine Skeptikerin fragen. Das könnte ja alles sein.
Und recht hätte sie: Das Krankheitsbild Long Covid ist bestürzend wenig erforscht. Eine erste Studie ergab über 200 mögliche Symptome.2 Alle gesundheitlichen Einschränkungen, die nach der akuten Krankheitsphase bestehen und nicht anderweitig zu erklären sind, fallen darunter. Diese Einschränkungen können sich bereits während der Krankheit zeigen oder erst danach auftreten. Sie können verschwinden und sie können wiederkehren.
In den ersten Wochen nach der Infektion verlasse ich das Haus nur mit Gehstock: mein Gang unsicher. Manchmal begleitet mich für Stunden ein Schwindel, der vorwärtsgehen schwierig macht. Ich scheue Treppen: auf jedem Absatz muss ich innehalten, um wieder zu Atem zu kommen. Nach Anstrengungen legt sich eine Dumpfheit um meinen Kopf wie ein Helm. Dagegen hilft nichts außer liegen. Möglichst ohne Podcast, ohne eines meiner geliebten Video Essays. Ob ich Long COVID habe, weiß ich nicht: Versuch mal, eine Diagnose mittels 200 möglicher Symptome zu geben. Einmal rufe ich bei einer Fachstelle an. Sie ist ausgelastet.
Wenn Beschwerden noch drei Monate nach der Infektion anhalten, spricht man vom Post-COVID Syndrom. Es gibt Menschen mit Post-COVID, die eine Chronische Fatigue entwickeln. Der Körper reagiert auf Belastungen mit der Postextertionellen Malaise (kurz PEM). Als charakteristisches Symptom tritt die PEM schon nach geringen Belastungen auf und äußert sich mit grippeähnlichen Symptomen, Muskelschmerzen, bleierner Müdigkeit und einer starken innere Unruhe. In extremen Fällen kann schon das Bewegen im Bett PEM auslösen. Eine wirkungsvolle Therapie gibt es bis heute nicht.
Als ich feststelle, dass ich nicht mehr wie gewohnt funktioniere, weiß ich von Post-COVID. Ich habe Margarete Stokowskis Texte über ihre Erkrankung gelesen3, höre von Betroffenen in meinem Bekanntenkreis, die sich einen neuen Alltag mit chronischer Erkrankung aufbauen müssen. Die Möglichkeit der Chronifizierung schwebt über mir, obwohl es viel zu früh ist, um Post-COVID festzustellen. Bei jeder Sache, die ich nicht mehr einfach so tun kann, frage ich mich, ob es vielleicht ein Nie Wieder ist: Kurz nach der Erkrankung besuche ich mit meiner Schwester einen Buchladen. Auf meinen Stock gestützt gehe ich die Regale entlang. Als ich den Klappentext eines Buches über queeren Widerstand lese, erfasst mich ein so starker Schwindel, dass ich mich hinlegen muss. Auf den Boden. Im Laden.
Meinen ersten Versuch, wieder in die Uni zu gehen, muss ich abbrechen. Eigentlich liebe ich die Uni, eigentlich liebe ich Texte lesen und über Texte reden und überhaupt: von so viel Wissen umgeben zu sein. In diesem Seminar jedoch sitze ich wie benebelt am Rand, während die Dozentin die Aufgabe erklärt. Ich frage meine Nachbarin, was wir tun sollen. Wir gehen in eine Gruppenarbeit, bei der ich nicht weiß, was ich sagen soll, und wenn ich doch den Mund aufmache, am Ende eines Satzes seinen Anfang vergessen habe. Nach einer Dreiviertelstunde spüre ich einen Druck auf meinem Kopf, als befinde ich mich tief unter Wasser. Zuhause liege ich mit Ohrenschmerzen im Bett und weine, ich denke an meine Träume von einem PhD, meinen mühelosen Einsnullerbachelorabschluss und frage mich, ob es das jetzt war. Ob ich jetzt nie wieder einen komplexeren Zusammenhang denken kann als einen einfachen Syllogismus - alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, folglich ist Sokrates sterblich - und manchmal noch nicht mal den.
Nach ein paar Wochen traue ich mich wieder für kurze Strecken aufs Fahrrad. Wenn ich vorher genug esse, kann ich bis zu vier Kilometer fahren, ohne dass mir schwindelig wird. Lesen geht auch, meistens. Ich komme zwar nicht so nah an den Text ran wie früher, aber immerhin reicht meine Auffassungsgabe wieder um ein gutes Dutzend Seiten zu erfassen und sich Gedanken dazu zu machen.
Ich habe gute Tage, die sich fast wie früher anfühlen. Ich lese Texte zum Unzuverlässigen Erzählen und beteilige mich an der Seminardiskussion. Ich mache die ersten längeren Spaziergänge mit meinem Hund, eine Dreiviertelstunde, eine Stunde, Zehntausend Schritte. Ich sitze auf dem Balkon von Freundïnnen, wir gehen was trinken, drehen eine Runde durch den Park. Abends bin ich erschöpft, aber nicht zerschlagen. Ich gehe früh ins Bett und stehe am nächsten Tag auf: als wäre nichts gewesen.
Um eine Überlastung zu vermeiden - vor der ich Angst habe, von der Post-COVID-Betroffenen sagen, dass sie eine konstante Zustandsverschlechterung nach sich ziehen kann - betreibe ich konstantes Selbstmonitoring. Ich beobachte mich, meinen Körper, bei jeder Anstrengung: Wie leicht fallen mir die Bewegungen, wie klar ist mein Kopf, treten irgendwo Schmerzen auf. An komplexen Gedanken teste ich meine kognitive Leistungsfähigkeit: Könnte ich jetzt Judith Butlers Theorien zu Gender erklären - ja? Gut.
Mit der Zeit entwickle ich ein gutes Gefühl dafür, wie viel Kraft ich habe und reagiere; verabschiede mich früher von Freundïnnen, sage einen Geburstag ab. Manchmal versiegt die Kraft trotzdem ganz plötzlich: Meine Bewegungen werden mühsam als umgäbe mich nicht Luft, sondern Sirup; ich lege mich ins Bett, ich versuche zu schlafen, ich wälze mich unruhig umher, ich mache eine Meditationsübung, ich schlafe ein, ich wache auf, ich räume den Geschirrspüler aus, ich kann mich kaum auf den Beinen halten, ich gebe dem dumpfen Druck nach und döse wieder. Nur nachts starre ich wach an die Decke, habe Angst vor der Chronifizierung, der Körper schmerzt vom Liegen; ein Schmerz, der zu wandern scheint, vom Rücken in die Ellbogen, in den Nacken, ins linke Handgelenk.
Es gibt Tage, an denen ich nach dem Einkaufen ins Bett falle und mich für die nächsten vierundzwanzig Stunden grippig fühle. An denen eine kurze Fahrt mit dem Fahrrad mich mit einer Benommenheit zurücklässt, die ich vor COVID nicht kannte. Es gibt Tage, an denen ich kaum lesen kann, weil ich am unteren Ende der Seite schon vergessen habe, wie sie begann. Es gibt Tage, an denen ich die Treppe in den ersten Stock nur mit Pause hinauf komme. Es gibt Tage, an denen die Benommenheit meinen Kopf umgibt wie eine Wolke, da mache ich den Mund auf und mir fehlen einfachste Wörter, ich schalte eine Waschmaschine ein und finde die stinkende Wäsche Tage später, ich verwechsle die Uhrzeiten von regelmäßigen Terminen oder vergesse eine Deadline, die seit Wochen in meinen Kalendern steht.
Diese diffusen Beschwerden und kognitiven Fehlleistungen werden als Brain Fog zusammengefasst, einem häufigen Symptom von Long COVID. Wikipedia bietet Synonyme an, die wesentlich weniger harmlos klingen: Bewusstseinstrübung. Clouding of Consciousness. Verdunkelung des Bewusstseins.
Mittlerweile ist meine Erkrankung mehr als drei Monate her. Letzte Woche noch dachte ich: Ich kann diesen Text nicht veröffentlichen. Eigentlich bin ich doch gesund. Eigentlich ist doch alles wie vorher. Und das stimmt irgendwie auch: Ich kann wieder in die Uni gehen, mit meinem Hund im Wald umherstromern, länger als dreißig Minuten lesen. Zwischendurch habe ich mich so stark gefühlt wie selten, ich ging joggen und arbeiten und half beim Aufbau eines Festivals, ich besuchte meine Familie in Südhessen und sang Karaoke und ging zelten. Das Ding ist nur: Danach wurde ich erstmal für eine weitere Woche krank. Meine Gelenke begannen zu schmerzen: Erst die linke, dann die rechte Hand. Ich schmierte Voltaren drauf und umwickelte beide Handgelenke mit Bandagen, dass ich aussah wie ein postapokalyptischer Warrior. Das half, aber nur bis der Schmerz in meine Fußgelenke wanderte. Auch die Kurzatmigkeit ist zurück. Und meine Ohren schmerzen nach körperlicher Belastung.
Das alles kann im Zusammenhang mit COVID stehen, aber ist gleichzeitig so diffus und allgemein, dass es jede Ursache haben kann. Meine Ärztïnnen sagen Dinge wie: Denken Sie mal nicht ans Schlimmste.4 Aber daran denke ich. Und ich denke an diese ersten warmen Wochen letzten Jahres, als wir vorsichtig die Köpfe aus unseren Wohnungen in ein neues Normal steckten: You know it’s not the same as it was. Dass es dabei vielleicht bleibt, aber vielleicht auch nicht, daran denke ich, und damit versuche ich okay zu sein.
Dieser Text entstand im Rahmen des einwortKollektivs zum Thema >Vergessen<. Das einwortKollektiv besteht aus sechs Autor*innen, die sich alle zwei Monate von einem gemeinschaftlich bestimmten Wort inspirieren lassen.
Bisher erschienen sind:
Oliwia Marta Haelterleins Notatka gegen das Vergessen.
Vivian Spers Eintauchen in den Cringe der eigenen Vergangenheit.
Sofia B.s Essay übers Vergessen in der Ärztïnnen-Patientïnnen-Beziehung.
Kea von Garniers Hinterhofüberlegungen zur Heilung von nichterinnerten Wunden.
Nächste Woche erscheint Franziska Königs Text auf Buchstaben belichten.
Bild: Renda Eko Riyadi via Pexels
Hier findet man ihre Kolumnen, in denen sie unter anderem über das Leben mit Chronischer Fatigue schreibt: https://www.spiegel.de/impressum/autor-4822ad43-0001-0003-0000-000000021963.
Behinderung - zu der Chronische Fatigue zählt - als einen Superlativ des Schlechten, als einen unbedingt zu vermeidenden Schicksalsschlag zu betiteln, ist alte ableistische Tradition.