Into the Wendyverse: Race, Class und Gender auf Gestüt Rosenborg.
Spoiler für Wendy Comics 1998 bis 2002.
I Pferdemädchen
Um die Jahrtausendwende war ich für alle, die mich kannten - einschließlich meiner selbst - ein Mädchen1. Ein Mädchen vom Land. Und ich liebte Pferde. Ich ließ mir das Abo einer Pferdezeitschrift zum Geburtstag schenken und dekorierte meine Hälfte des Geschwisterzimmers mit Pferdepostern. Ich bettelte meine Eltern um Reitstunden an und sollte sie auch irgendwann bekommen. Und ich las Pferdebücher. Reiterhof Drei Lilien, Der Pony-Club, die Pferbebande, Sattelclub, Reitinternat Ulmenhorst. In all diesen Büchern gab es eins bis drei weibliche Hauptfiguren, die auf einem Pferdehof lebten; eins bis drei Tussis2, die ebenfalls auf dem Reiterhof lebten, und vielleicht einen süßen Boy, meistens aber vor allem süße Pferde.
Heute habe ich Probleme, diese Bücher bei einer Googlesuche zu finden: sie scheinen den Transfer ins Internet nicht geschafft zu haben. Bis auf ein paar Foreneinträge kann ich auch keine Spuren von Nostalgie für sie entdecken. Was hingegen universal Nostalgie auslöst, ist die Bravo unter den Pferdezeitschriften: Die Wendy. Benannt nach der Heldin des Comics, der sich über den Großteil des Hefts erstreckte. Eine Institution seit 1986.
Als ich in einem offenen Bücherschrank einen Stapel Wendys der Jahrgänge 1998 bis 2002 finde, gleicht es einem Schatz. Unterm Arm trage ich sie nach Hause. Am Abend liege ich zusammengekuschelt im Lichtkegel meiner Nachttischlampe und lese. Wie in den 90ern. Was als nostalgische Reise angefangen hat, wird rasch zu einer retrospektiven Milieustudie, zur autoethnografischen Untersuchung über unser aller liebste Pferdezeitschrift.
II Wendys Welt
Ich lese von verletzten Stuten und neugeborenen Fohlen. Von historischen Reitumzügen und ersten Springturnieren. Von modebegeisterten Mädchen und von pferdebegeisterten. Bald steht mir auch das Figurenensemble wieder vor Augen: Wendy lebt mit ihrer Familie auf dem Gestüt Rosenborg, das ihrem Vater Gunnar gehört. Ihre beste Freundin Bianca hat ebenfalls ein Pferd auf Rosenborg. Wendy besitzt zwei Pferde, Penny und Dixie. Zu Wendys und Biancas Vertrauten und Bekannten, die immer mal wieder ins Zentrum der Story rücken, gehört eine ganze Reihe an Familienmitgliedern, Klassenkameradïnnen, Tierpflegerïnnen, Reitlehrerïnnen und Gästen. Zu den verlässlich wiederkehrenden Figuren zählt auch Wendys hellblonde Cousine Vanessa, die Tussi dieser Welt. Eine Art mickrige Antagonistin, deren eigennützige, oberflächliche Art Wendy und ihre Freundïnnen immer wieder in Schwierigkeiten bringen soll, aber selten ernsthafte Auswirkungen auf Wendys Leben hat und eigentlich nur dazu dient, Wendys vorbildlichen Charakter zu unterstreichen.
In jedem Heft erlebt Wendy ein neues Abenteuer. Einmal muss Wendy dem Nullerjahre-Star Sascha Reitstunden geben. Einmal muss sie einen Kriminalfall lösen. Einmal führt ein streunender Hund sie zu einer gestürzten Reiterin - und ihr Vater schenkt ihr daraufhin den Hund zu Weihnachten.
Die Story mit dem Hund erscheint mir paradigmatisch für das Wendyverse. Weil ich selbst Hundefan und -besitzerïn bin, weiß ich, dass Hunde kein Altruisten sind. Gerade Streuner ordnen sich Menschen nicht freiwillig unter3. Hunde haben nicht unbedingt Menschenwohl im Sinn, sie erraten unsere Bedürfnisse nicht auf eine zuvorkommende Art und Weise. Streuner, die gestürzte Frauen retten, gibt es vor allem im Wendyverse. Genauso wie es dort Väter gibt, die einem solche Hunde zu Weihnachten schenken. Wo man jeden Tag mit der besten Freundin ausreiten kann. Erfolgreiche Springreiterin ist. Jeden Tag die eigenen Pferde umsorgt. Ein Händchen für quasi jedes Tier hat.
Als Kind verstand ich den Märchenanteil dieser Welt nicht. Ich dachte, wenn ich ein Pferd hätte, würde sich diese Welt voller zahmer Tiere von allein auftun, in der mein Lebensmittelpunkt magischerweise der Reiterhof wäre.
Natürlich bin ich mittlerweile erwachsen, eher dreißig als zwanzig, und weiß, dass Wendy in eine Märchenwelt einlädt; man träumt von kratzigem Stroh, Pferdeäpfeln, endlosen Ausritten und einfachen Konflikten.
III Class
Es gibt allerdings einen Comic, der mein Verhältnis zu Wendys Traumwelt auf den Kopf stellt: Nichts ist mehr wie zuvor. Ich habe Morpheus getroffen und bin erwacht.
Wendy macht mit Bianca und deren Familie Urlaub. Auf der griechischen Insel Kos chillen die beiden am Strand und gehen reiten. Natürlich. Und zwar auf zwei rivalisierenden Höfen. Und wie zu jeder Geschichte von rivalisierenden Familien gehören auch zu dieser ein Romeo und eine Julia. Wendy und Bianca spielen Brieftauben zwischen den star-crossed Lovers, während sie Ausritt um Ausritt bei dem einen oder anderen Hof mitmachen und eine Reihe mysteriöser Ereignisse Angst und Schrecken verbreitet. Zum Beispiel erschlägt ein Erdrutsch beinahe die Reitpartie. Biancas Vater - selbst Polizist - geht sofort zur örtlichen Polizei, wo er sich mit Inspektor Andros Dabizos anfreundet. Wie der wahre Freund und Helfer inspizieren die beiden das Gelände des Erdrutschs. Sie kommen zum Schluss: Es muss gepfuscht worden sein!
Nach ein paar weiteren Unglücken passiert es: Wendy hat gerade das Pferd Poseidon vor einer Vergiftung bewahrt, da sagt Hofbesitzer Andros:
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll - aber eins ist klar: Ihr beide dürft für den Rest der Ferien umsonst bei uns reiten!“
Mit diesem Satz bricht sie ein like a wrecking ball, die Politik in die Wendy-Comics. Deutlicher als mit Biancas Cop-Papa, der als Side-Plot mit seinem griechischen Cop-Freund die Kette mysteriöser Ereignisse aufdeckt und präventiv Racheakte verhindert. Deutlicher als mit Biancas Mutter, deren Beruf oder Namen wir nicht erfahren. Deutlicher als mit all den auf -os endenden Namen und ihren auffallend light skinned Trägerïnnen. Nein, hier bricht die finanzielle Realität in meine nostalgische Lektüre ein. Eine Realität, die jeder erwachsenen Person durch ein wenig nachdenken natürlich klar wird. In der Realität zumindest. Aber Wendy spielt nicht in der Realität, Wendy spielt in einer Welt, in der altruistische Streunerhunde blonde Mädchen über vom Fahrrad gefallene Frauen informieren. Ich hätte diesem Universum auch geglaubt, dass Geld keine Rolle spielt. Dass es eine Parallelwelt ist, in der Reiten eben nichts kostet. Weil alle eh Pferde lieben und die Pferde liebend gern mit anderen teilen, die halt auch Pferde lieben. Und die Tierärztinnen und Reitlehrer lieben Pferde genauo wie alle anderen, sie üben keine Berufe aus, sie gehen ihrer Berufung nach. Hat doch niemand gesagt, dass die da Geld für nehmen. Vor allem, weil alle immer so lieb miteinander sind, und sprechen, als würden sie sich seit Jahren kennen, als wären sie auf gleicher Ebene miteinander.
Wendy unternimmt Urlaubsritt um Urlaubsritt, nimmt Hund, Katze, Pferd bei sich auf, lässt Tierärztin, Reitlehrer, Hufschmied kommen. Geld wird nicht erwähnt. Und zwar nicht, weil es in dieser Welt kein Geld gibt, sondern weil Geld keine Rolle spielt, wenn man Wendy, Tochter des Gestütsinhabers, ist. Denn Andros’ Großzügigkeit ist nicht das einzige Mal, dass Wendys ökonomische Situation sich offenbart. Das merke ich beim Weiterlesen. Ich hab die verdammte Red Pill geschluckt.
Da gibt es den einen Comic, in dem Wendys Stute Penny4 eine Sehnenverletzung hat. Zunächst kauert Wendy👩 mit Tierärztin Stefanie im Stroh, und sie sprechen über Rehabilitationsmaßnahmen für Penny🐴, wo sich wieder das seltsam freundschaftliche Verhältnis zeigt, dass die Dienstleistungsberufe dieser Welt durchzieht. Stefanies Anweisungen klingen wie Vorschläge, durchsetzt mit Kommentaren wie
„Penny🐴 wieder fit zu bekommen, wird die härteste Aufgabe deines Lebens werden!“
„Das ganze Programm wird viel Geduld erfordern!“
„Es gibt mit Sicherheit Rückschläge und Enttäuschungen! Das Ganze wird nicht so einfach!“
- als ginge es eher darum, als ältere Vertraute Wendy👩 durch ein schwieriges Ereignis zu coachen. Stefanie verabschiedet sich mit den Worten „Penny🐴 hat Glück, dass sie so eine fürsorgliche Besitzerin hat“. Eine Rechnung taucht nicht auf - aber wer weiß, vielleicht überweist Gunnar Thorsteeg ihr einen großzügigen monatlichen Pauschalbetrag, in dem die emotionale Arbeit enthalten ist, seine Tochter psychologisch zu betreuen. Wobei, vielleicht eher nicht, denn Gunnar scheint, wie wir kurz darauf von zwei über Pennys🐴 Zukunft spekulierende Nebenfiguren erfahren „ein knallharter Geschäftsmann zu sein“, der das Pferd vielleicht einschläfern lässt, wenn es nicht weiter bei Springturnieren antreten kann.
Im darauffolgenden Bild sieht man Wendy👩 mit maximal verzweifeltem Gesichtsausdruck auf dem Hof stehen und denken „Nein! Das würde Papi nie tun… oder?“ - quasi als Embodiment des reichen Mädchens, dessen Vater ihr bisher jeden Wunsch erfüllt hat, ohne dass sie je mit der finanziellen Realität dieser Wünsche konfrontiert wurde. Naja. Wendy👩 darf Penny🐴 am Ende jedenfalls behalten, auch wenn sie vielleicht „nie wieder springen kann“. Aber nicht etwa, weil auch ein krankes Tier ein Recht auf Leben hat, sondern weil Penny🐴 schon genug Leistung erbrachte.
Es gibt auch mehrere Comics, in denen es um den Stellenwert von Arbeit für Wendys Generation geht. In einer Story „fragt“5 Wendys Vater sie, ob sie auf dem Hof helfen könne. Wendy ist zwar nicht begeistert, aber hilft natürlich. Weil sie so nett ist. Und fleißig. Obwohl das heißt, dass sie auf Ausritte und Strandpicknicke mit ihren Freundïnnen verzichten muss. Die Freundïnnen, die Wendy lieber helfen, als ohne sie zum Strand zu reiten, packen kurzerhand mit an - so ist die Arbeit rasch erledigt und Freizeit verdient. Nur Cousine Vanessa macht nicht mit. Weil sie sich die Kleider nicht schmutzig machen will. Obendrein genießt sie es offensichtlich, Wendy arbeiten zu sehen. Sie stößt sogar einen Mistkarren um, damit Wendy länger schuften muss.
Später hört Vanessa Wendy und Bianca im Stall sprechen - Wendy soll einen Ausritt mit einem berühmten Gast betreuen, der aus der Musikbranche kommt und die Initialen R.W. hat. Vanessa - überzeugt, dass es sich um Robbie Williams handelt - überredet Wendy, sie den Ausritt leiten zu lassen und nimmt in Kauf, dafür die Sattelkammer zu putzen. Der berühmte Gast stellt sich allerdings nicht als Robbie Williams heraus, sondern als Klavierstimmer mit den gleichen Initialen. Während des Ausritts muss sich die enttäuschte Vanessa Vorträge über Orgeln anhören und langweilt sich zu Tode.
Diese Langeweile erscheint mir als Poetische Gerechtigkeit: Vanessa drückt sich vor der Arbeit. Sie hasst arbeiten. Selbst wenn alle anderen mithelfen, sich wie ein Team verhalten, streikt Vanessa. Vanessa handelt nur im Selbstinteresse. Dann, und nur dann, wenn es ihrem Selbstinteresse entspringt, packt sie mit an. Diese Rosinenpickerei wird bestraft - statt eines Popstars kriegt sie dröge Langeweile. „Geschieht ihr Recht“, soll man denken. Wendy hingegen klagt nicht über die Arbeit, die ihr Vater ihr aufträgt, sie erledigt sie ohne zu murren, würde sogar auf Ausritte und Zeit mit Freundïnnen verzichten. Genau deswegen helfen ihre Freunde ihr: sie hat es verdient, dass man ihr hilft.
Ein anderer Comic liest sich wie spiegelbildlich dazu. Bald ist Weihnachten und Vanessa hat nicht genug Taschengeld übrig, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Zuerst fragt sie ihre Mutter nach Geld. Die verneint und schlägt Vanessa vor, einen Nebenjob anzutreten. Zuerst sucht Vanessa nur nach Arbeit mit glamourösem Touch - Verkäuferin in einer fancy Boutique oder Parfumerie zum Beispiel. Aber alle Stellen mit einem Hauch von Haute Couture sind in einem weiteren gegen Vanessa gerichteten Streich poetischer Gerechtigkeit schon vergeben.
Schließlich wird sie als Aushilfe in einem kleinen Café angenommen, das nichts von dem Glamour versprüht, den Vanessa sich wünscht. Sie hasst den Job und möchte kündigen, sobald sie genug Geld für die Geschenke zusammen hat. Einmal nennt ein Kunde sie Süße. „Ich bin nicht deine Süße“, antwortet Vanessa - und denkt, wie peinlich es ihr wäre, wenn sie hier gesehen würde. Als sie ihren Lohn erhält, kauft sie sich ein Kleid statt Weihnachtsgeschenke.
Im Gegensatz zu Wendy - die ihre Arbeit klaglos verrichtet - hegt Vanessa große Abneigung gegen das Arbeiten. Wie um ihre Lektion zu lernen erhält sie einen working class job, den sie hasst. Nicht, weil sie dort belästigt wird oder weil ihr Chef ein Arschloch ist, sondern weil eine solche Arbeit nicht von Leuten wie ihr gemacht wird. Weil sie sich zu fein dafür ist. Dabei gibt es neben der alltäglichen sexuellen Belästigung gute Gründe, das Kellnern zu hassen: die häufig absurd langen Schichten, Clopening6; die seelenfressende Arbeit des Freundlichbleibens, Trinkgeldbetrug, unvorhersehbare Schichtpläne, ständige Abrufbarkeit. Doch mit so etwas wie schlechten Arbeitsbedingungen hält die Wendy sich nicht auf. Stattdessen wird Vanessas Abneigung klassistisch motiviert geframed. Der Kellnerjob als Lektion, die sie nicht lernt, kauft sie am Ende doch das Kleid statt Weihnachtsgeschenke. Hätte Vanessa gelernt, sich auch mal reinzuknien, sich nicht zu beschweren, weniger selbstsüchtig zu sein - vielleicht wäre sie dann die Heldin der Comics.
Und die Heldin? Wendy hätte ihr Geld nicht so schlecht eingeteilt. Wendy würde den ganzen Tag Mist schaufeln, ohne einen Cent dafür zu wollen. Schließlich hilft sie auch auf dem Gestüt mit. Wendy würde auch klaglos kellnern. Wendy hat es verdient, reich zu sein, denn sie könnte auch arm sein. Es ist egal, dass Wendy Immobilien und Zuchtpferde erben wird, denn sie wäre trotzdem von der Tellerwäscherin zur Millionärin geworden.
IV Gender
Vanessa entspricht dem Archetyp der Tussi: selbstbezogen, oberflächlich, extrem auf ihr Äußeres bedacht. Vielleicht hat die Tussi in den letzten Jahren einen Bedeutungswandel erlebt7; in den Nullerjahren war sie jedoch der Inbegriff von allem Schlechten, das man so mit Weiblichkeit assoziieren konnte. Und das hat eine lange Tradition. Ich glaube, ich habe in Ways of Seeing des Kunstkritikers John Berger gelesen, dass Eitelkeit-Allegorien in der Bildenden Kunst oft eine nackte Frau zeigen, die in den Spiegel starrt.
Kaum ein Comic verdeutlicht Vanessas Funktion im Wendyverse so gut wie die Geschichte über die Geburtstagsparty von Vanessas Freund Alan. Alle gehen hin. Die Mädchen fragen sich schon Tage vorher, welches Kleid sie tragen werden. Wendy hat eines zu Weihnachten bekommen, das sie anziehen wird. Bianca hat kein passendes; sie will in der Stadt ein neues kaufen. Vanessa braucht auch ein neues Kleid, sie hat eines in der Stadt gesehen, das muss sie haben. Dieses eine. Natürlich kauft Bianca ganz zufällig genau dieses eine Kleid - you know, for plot reasons. Vanessa ist empört, aber sicher, dass sie hundertmal besser aussehen wird.
Am Abend der Party rettet Bianca zufällig auf dem Weg zu Alan ein ertrinkendes Kind. (I kid you not.) Dabei wird ihr Kleid dreckig. Beschämt will Bianca nur das Geschenk abgeben. Doch Alans Mutter drängt sie zum Bleiben. Die Partygäste bewundern Vanessas Aussehen - die diese Aufmerksamkeit sichtlich genießt und abfällige Bemerkungen über Biancas dreckiges Kleid macht. Dann aber taucht ein weiterer Gast auf, der zusah, wie Bianca das Kind rettete. Plötzlich ist Bianca der Star der Party. „Warum bekommt sie jetzt die ganze Aufmerksamkeit?“, kommentiert eine eingeschnappte Vanessa. „Sie sieht unmöglich aus.“
Wie die bestellte Moral von der Geschicht’ antwortet Wendy: „Du raffst es nicht, stimmt’s, Vanessa? Es ist nicht das Kleid, das zählt, sondern die Person, die es trägt!“
Und so ist diese Welt einerseits bevölkert von Wendys und Biancas, guten tugendhaften Mädchen, arbeitsam und bescheiden, stets nett und hilfsbereit, auch wenn sie sich dafür die Klamotten ruinieren. Die Wendys und Biancas sind dünn, sie tragen modische Klamotten, und sie gehen auch mal mit einem Jungen aus. All das passiert aber wie nebenbei, sie investieren keine Arbeit in ihr erotisches Kapital. Das tut nur Vanessa und wird dafür Folge um Folge bestraft. Ihr Bemühen um das eigene Aussehen offenbart ihre Arroganz und Selbstbezogenheit, Faulheit und Eitelkeit.
Viel mehr bietet das Gestüt Rosenborg im Jahr 2000 nicht als Rollenbilder an. Die allermeisten Figuren sind reitende Mädchen und Frauen, die Beziehungen zu ihren Pferden haben und Beziehungen zu anderen Menschen mit Pferden, in denen vor allem Pferde thematisiert werden. Es gibt arbeitende Frauen, die in erster Linie durch ihre Profession Teil des Comics werden: Die Tierärztin, die Reitlehrerin, die Tierheimleitung. Animal care workers. Es gibt noch die Mütter, die ich aber in meinen Ausgaben kaum kennen lerne; sie tragen keine Namen und haben keine Berufe. Wahrscheinlich machen sie den Haushalt für Daddy Rosenborg und Biancas Cop Daddy.
Und, so denke ich im Schein meiner Nachttischlampe, machen all diese weiblichen Figuren doch vor allem um Fürsorgearbeit: Die Mütter für ihre Töchter, die Tierärztinnen für die kranken Tiere, die Wendys und Biancas für ungefähr jedën, diër gerade mal Hilfe braucht.
Männer gibt es in diesem Universum zwar, aber nur wenn sie reiten. Die einzige Ausnahme ist vielleicht Cop Daddy. Weil natürlich irgendwer das Kapital von Daddy Rosenborg schützen muss. Die Männer dieser Welt sind eindimensional wie die Mädchen und Frauen. Sie reiten, treffen Entscheidungen und machen sich vielleicht Sorgen um ihre Töchter wie Daddy Rosenborg oder Cop-Boy. In erster Linie aber sind sie abwesend.
(V Race)
Die einzige nicht-weiße Figur, die ich kennenlerne, ist ebenfalls männlich. Reitlehrer Billy taucht in mehreren Geschichten am Rand auf. Er wird in einer Weise gezeichnet, die wohl als indigenous nordamerikanisch gelesen werden soll. Billy kümmert sich in erster Linie um Pferde. Er hat wohl wahrhafte Pferdeflüsterer-Qualitäten. Ja, das steht so im Text. Und für Wendys Welt macht diese Exotisierung Sinn, sind alle Figuren doch nur Holzschnitte. Und der Holzschnitt eines Pferdeflüsterers ist eben eine Art Edler Wilder, der qua Race eine andere, irgendwie übersinnliche Verbindung zu den Tieren hat. Wahrscheinlich unterrichtet er auch noch Westernreiten, aber diese Vermutung konnte ich noch nicht bestätigt finden.
Vielleicht war ich mal ein Mädchen, aber ich wuchs nie zu einer Frau heran, ich wurde zu einem genderfluiden Wesen, für das sich die Bezeichnung „Enby“ durchgesetzt hat.
Zur Tussi später mehr.
In deutschen Tierheimen sitzen viele ehemalige Straßenhunde, die aus Spanien oder Rumänien nach Deutschland vermittelt wurden und sich ein bisschen anders verhielten, als die Adoptierenden erwarteten.
Durch die phonetische Nähe von Wendy zu Penny kann ich die Wörter nicht gut auseinanderhalten. Die bildliche Ebene der Comics hilft da. Ich übersetze das hier mal mit einem kleinen 👩🐴 hinter dem jeweiligen Wort.
Wendy und ihr Papi unterhalten sich über Personalengpässe:
Wendy: „Und was ist mit Rosenborg? Wir brauchen hier auch Hilfe!“
Papi: „Ich weiß, das musste ausgerecht jetzt passieren, wo Flavio im Urlaub ist. Ein Glück, dass du noch keine Schule hast. Dann kann ich mich darauf verlassen, dass du Tamara nächste Woche helfen wirst!“
Wendy: „Oh… wie denn?“
Papi: „Die normalen Sachen halt […] (Nächstes Bild) Es tut mir leid, dass ich dich darum bitten muss, aber mir bleibt keine Wahl!“ (Bitten, lol)
Es gibt tatsächlich ein Kofferwort für das Phänomen, gleichzeitig die Spät- und Frühschicht zu haben: Bis spät in die Nacht im Betrieb sein um zu schließen (closing), nur um wenige Stunden später wieder zu öffnen (opening).
So gut, die eigene Kindheitslektüre noch einmal kritisch zu reflektieren – ich war auch eine eingefleischte Wendy-Leserin, zusammen mit meiner Schwester. Tatsächlich gibt es in ihren Schubladen irgendwo noch einen Haufen Collagen, die wir aus den Comics gebastelt haben. In denen wir mit eigenen Sprechblasen und ziemlich stranger Bildauswahl einige verstörende Szenen gebaut haben, die so gar nicht zu der heilen Wendywelt passten. Offenbar hatten wir damals irgendwie das Bedürfnis, die Abgründe hinter der Bullerbü-Fassade zu fassen. Trotzdem haben uns diese Comics hundertpro geprägt, wie auch so viele andere Bücher, die ähnliche Rollenbilder vermittelten und haufenweise Blind Spots hatten.
Ich hatte auch ein Abo von Oma... wenn ich mich richtig erinnere, hat Billy tatsächlich Western reiten unterrichtet 🙈